Ein Essay von Anton Schroeder über den Film De Humani Corporis Fabrica (Véréna Paravel, Lucien Castaing-Taylor, CH/F/USA 2022)
„Mein Herz wurde nun zu meinem Fremdem. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand. Von außen konnte der Fremde nur in dem Maße kommen, in dem er zunächst innen aufgetaucht war.“ (Jean-Luc Nancy, Der Eindringling)
Die Einstellungsgrößen im Film sind am menschlichen Körper orientiert. Halbtotale, Amerikanische, Nahaufnahme, Großaufnahme, immer näher rückt der Mensch den Zuschauenden auf die Pelle. Die äußere Schale des Menschen stellt dabei einen Endpunkt dar, die Detailaufnahme bietet die größtmögliche Nähe zum gefilmten Objekt. Doch was passiert, wenn diese Grenze penetriert wird, wenn die Kamera die Haut durchdringt und von innen agiert? Ist das eine Ultra-Nah-Detailaufnahme? Nein. In einer besonders einprägsamen Szene in De Humani Corporis Fabrica – die Kamera befindet sich gerade im Inneren des Körpers, wo durch einen operativen Eingriff die Plazenta entfernt werden soll – hört man einen Arzt von außen sprechen: „We zoomed in too much. It’s getting a bit abstract“, sagt er, „I’m lost“. Tatsächlich bewirkt das Eintauchen der Kamera in den menschlichen Körper (aus nicht-ärztlicher Perspektive) vor allem dies: ein Gefühl der Entfremdung vom Menschen, eine Abstraktion. Die größtmögliche Nähe der Kamera resultiert in Distanz. Bei vielen der Innenaufnahmen ist es einfach, zu vergessen, dass die Formen auf der Leinwand Organe sind, echte Organe eines echten Menschen. Vielmehr wird das Innere zu einer unbekannten Landschaft, wie es sie vielleicht auf einem anderen Planeten gibt oder in der Tiefsee, irgendwo weit weg jedenfalls. Operative Zangeninstrumente ähneln dann Krokodilen, das Bild befindet sich in der Schwebe. Denn oft zeigen die Szenen in De Humani Corporis Fabrica nicht etwa das Eindringen in den Körper. Andersherum: die Kamera befindet sich bereits im Körper, erst im Nachhinein, beim Herausfahren aus ebenjenem, wird klar, wo man gewesen ist. Die Orientierung wird nachgeliefert, und mit ihr das Gefühl einer konkreten Materialität. Das innere Bild selbst lässt sich durch diese immer wieder aufkommende Orientierungslosigkeit kaum im Außen verankern, auch fällt es schwer, einen Bezug zum Menschlichen herzustellen. Natürlich ist man sich bewusst darüber, gerade einer Operationsaufnahme beizuwohnen, doch dieses Wissen bleibt abstrakt. Erst die Oberfläche ermöglicht den Bezug zum Menschen: während im Inneren kaum etwas von Innerlichkeit zu spüren ist, wird über das Äußere eine Verbindung möglich, die sich in De Humani Corporis Fabrica gleichzeitig immer wieder entzieht. Die Außenaufnahmen zeigen größtenteils Demenz-Patientinnen, das defekte Hirn von außen. Zwei alte Frauen irren dann durch die Gänge des Krankenhauses, wonach sie suchen, bleibt unklar, vermutlich wissen sie es selbst nicht. Natürlich stellt sich in diesen Momenten die Frage, was die beiden wahrnehmen, wie es, in geläufiger Sprachweise, in ihrem Innern aussieht. Endoskopische Aufnahmen des Gehirns beantworten diese Frage nicht.
Schon in Caniba, dem Vorgängerfilm des Regisseur*innen-Duos Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, traten ähnliche Fragestellungen auf. Auch hier: Abstraktion durch Nähe, eine Kamera, die am Gesicht des Kannibalen Issei Sagawa klebt, immer wieder an Fokus verliert und nur noch schemenhafte Formen erkennen lässt. Auch hier die Frage nach dem Inneren dieses Menschen und dessen Manifestation im Äußeren, in kleinen Gesten; Sagawa kaut wie ein Nagetier. Dieses Verhältnis in De Humani Corporis Fabrica nun auch umzukehren, die Kamera ins Innere zu verlagern, ist der logische nächste Schritt.
Dass während der operativen Eingriffe die Gespräche der agierenden Ärzte zu hören sind, fügt einen weiteren Aspekt hinzu. Natürlich: dass die Mitarbeiterinnen eines Krankenhauses sich während einer Operation unterhalten, dass der Anblick von Gedärmen für diese Menschen alltäglich ist, ist banal. Interessant werden die Gespräche in Verbindung mit dem Gezeigten: der Kontrast könnte kaum größer sein. Man sieht etwa einen Prostata-Eingriff, dabei wird von außen über die steigenden Mieten in Clichy diskutiert. Das wirkt alltäglich, gleichzeitig drängt sich jedoch die Frage nach der Menschlichkeit auf. Bricht nicht gerade in diesem Verhalten, im Klagen über Ordinäres oder dem Flaxen der Ärzte, die maschinelle Ästhetik der Operationsbilder auf? Das Bild, das hier vom Arzt vermittelt wird, ist nicht etwa, wie ganz am Ende des Films angedeutet, das des Halbgotts in Weiß, der über Leben und Tod entscheidet. Zwischen den objektiven, apparativen Bildern, mit denen die Ärzte arbeiten, und ihrem eigenen, fehlerhaften Verhalten entsteht ein Konflikt. Überhaupt eröffnet De Humani Corporis Fabrica die Kluft zwischen menschlicher Pflege, welche Einfühlungsvermögen, also Emotionen, notwendigerweise braucht und der Krankenhaus-Maschinerie, die eben diese Qualitäten in ihren objektivierten Bildern negiert. Die Menschlichkeit blitzt in den OP-Dialogen durch. Dennoch, wie Gernot Böhme in Alternativen der Wissenschaft schreibt: „Die ärztliche Erfahrung entfernt sich wie die naturwissenschaftliche überhaupt tendenziell immer mehr von der sinnlichen Erfahrung und wird zur apparativen Erfahrung“ – muss sie vermutlich auch, um auf Dauer aushaltbar zu sein. In einer der Sequenzen mit den dementen Frauen zu Beginn grüßt eine Krankenschwester, doch in ihrem freundlichen Ton steckt so wenig Freundlichkeit wie in den Innenaufnahmen Innerlichkeit. Fast ganz zu Beginn hören wir eine Pflegekraft über mangelnde Wertschätzung und harte Arbeitsbedingungen klagen. Die Technik bedingt den objektivierenden Blick.
So werden in den Operations-Szenen konsequent eben jene Organe behandelt, die über einen sinnlichen Unterbau verfügen. Das Hirn, das Geschlechtsorgan, die Plazenta, die Prostata. Gedanken, Gefühle, Lust. Durch den apparativen Blick der Maschinen wird all dies zu Materie, selbst eine Geburt zur Materialschlacht. Vielleicht fällt auch deshalb das anfangs angesprochene Assoziieren so leicht, weil da so viel fehlt von dem normalerweise Mitgedachten. Das vielleicht anstößigste an De Humani Corporis Fabrica ist diese Erkenntnis, dass da, im Inneren des Menschen, so wenig Innerlichkeit sichtbar ist. „Das Eigene ist, wie man sieht, keine Eigenheit, die ‚meinem‘ Körper angehört. Nirgends lässt es sich verorten, auch nicht in dem Organ, das sich um seinen symbolischen Ruf nicht mehr zu kümmern braucht.“, schreibt Jean-Luc Nancy. Der Mensch als Körper, der mal mit filigranster Technik wie ein Uhrwerk repariert wird, mal in Baustellen-Manier mit Hammer und Meißel, mit dem halben Arzt-Arm im Bauch beim Kaiserschnitt. Rituale und Traditionen wirken, zwischen diese medizinischen Aufnahmen gestreut, fast lachhaft: bei der Untersuchung einer Schwangeren wird der männliche Pfleger hinausgebeten, einem Toten werden Klamotten übergezogen, bevor er wieder vom Leichentuch verhüllt wird. Und trotzdem steckt in ihnen so viel mehr Menschliches als in der mikroskopischen Aufnahme einer weiblichen Brust.
Auch das Krankenhaus selbst (bzw. die Krankenhäuser, der Film wurde in acht gedreht, die zu einem Komplex verschmelzen) kann als Körper gedeutet werden, mit Innen- und Außenbereich. Hier wird die beschriebene Erfahrung mit Außen- und Innenaufnahmen des menschlichen Körpers gespiegelt. Im Keller des Krankenhauses, auf dem Dach auch, Außen und an den Übergangsorten, findet das Soziale seinen Platz, das Irrationale. Da wird getanzt zu „I will survive“ und „Blue Monday“, die Wände sind vollgeschmiert mit pornographischen Karikaturen. Zu Beginn des Films sehen wir einen Hund durch den Keller laufen, auch das ist ein Körper, ein anderer. Und auch das Krankenhaus hat Gänge, Adern und Schächte, durch die die Kamera gemeinsam mit der Rohrpost rauscht, nicht unähnlich der Innenaufnahmen des menschlichen Körpers.
Erweitert man den Blick noch weiter, mag das Krankenhaus gar als Organ erscheinen, als System neben anderen Systemen, die gemeinsam zum Funktionieren einer Gesellschaft beitragen und je nach Gesundheitszustand gut laufen oder eben nicht so, dann bedarf es eines Eingriffs, dann muss etwas abgesaugt oder hineingespritzt werden in das Krankenhaus. Aber vielleicht muss man den Blick gar nicht so weit öffnen, vielleicht reicht auch der Blick auf sich selbst im Kino sitzend. Auch man selbst ist ein Körper, der mit anderen Körpern in einem Raum hockt – all diese Körper nach außen gerichtet, alle schauen sie auf die Leinwand und damit dann doch wieder ins eigene Innere.