Ein Essay von Fenja Holz zum Kurzfilmprogramm MINIMUM STAGED
Das Motiv vom Film als Spiegel der bestehenden Gesellschaft tauchte sicher nicht zum ersten Mal in Siegfried Kracauers Essay Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino Ende der 1920er-Jahre auf. Dennoch scheint es seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit, in welcher dem Massenmedium auf den Zahn gefühlt werden soll, wieder ausgegraben zu werden. Der Film könne zwar gesellschaftskritische Bedürfnisse der Konsument*innen bedienen, „[n]iemals aber wird er sich zu Darbietungen verführen lassen, die das Fundament der Gesellschaft im geringsten angreifen […] Die Gesellschaft ist viel zu mächtig, um andere Bildstreifen als die ihr genehmen zu gestatten. Der Film muß sie spiegeln, ob er will oder nicht“ (Kracauer 1977: 279).
Die Geschichten und Bilder, die im Kurzfilmprogramms MINUMUM STAGED auftauchen, spiegeln dabei eine Gesellschaft, die von Gewalt geprägt ist – sei diese Gewalt nun Ausdruck eines Systems, die Auswirkungen von Kolonialismus oder die Gewalt des Mediums selbst. In einer Zeit, in der Filme eine Bildsprache entwickelt haben, welche mit Hilfe von Hochglanzbildern, unsichtbaren Schnitten und handlungsorientierten Geschichten daran arbeiten, eine glatte und unantastbare Oberfläche zu produzieren, welche ihre eigene Gemachtheit verleugnet, scheint das Filmprogramm mit einem Hammer auszuholen und den schönen Spiegel des kollektiven Unbewussten einzuschlagen.
Wie bei den meisten politischen Ambitionen, welche das bestehende System zu Fall bringen wollen, sind diese leider meist zum Scheitern verurteilt, wenn sich nicht flugs ein Zusammenschluss oder am besten ein Kollektiv als support findet. Unterstellt man dem Filmprogramm solche politischen Ambitionen – und ich möchte dies doch sehr gerne tun – dann haben sich hier fünf Filme gefunden, welche mit einer Vielzahl von filmischen Werkzeugen zur Dekonstruktion des bestehenden Systems eilen. Das Bild des tüchtigen Handwerkers ist hier mit Absicht gewählt. Wie für jede ordentliche politische Bewegung üblich, besteht der Zusammenschluss zunächst vorrangig aus schlauen Männern, die mit ihren schlauen Worten und Bildern die Welt verändern wollen. Hier sei dies jedoch zunächst einmal verziehen, auch wenn sich die Programmabteilung der Viennale vielleicht ja bei der nächsten Ausgabe dazu hinreißen lassen könnte, eine etwas diversere Perspektive auf Gewalt, Kapitalismus und kinematographisch geprägte Wissensbilder miteinzubeziehen. Ich bin mir sicher, dass Cheryl Dunye, Ufuoma Essi, Kristy Guevara-Flanagan und viele andere Künstler*innen interessante Werke geschaffen haben, die das Konstrukt der hegemonialen Narrative bröckeln lassen könnten.
Anyways- Trotzdem sich die fünf Filme mit unterschiedlichen Themen auseinandersetzen und dabei eine individuelle Filmsprache bedienen, scheinen die Arbeiten dort ineinander zu greifen, wo eine politische Ästhetik hervortritt. Klirrend zerspringt hier der Spiegel des allwissenden Filmbildes, und wir, die Zuschauer*innen, müssen innehalten. Für sich stehend mag Jan Soldats Montage-Essay wie ein deplatziertes Youtube-Video wirken, welches uns die 1000 Tode des Udo Kier zeigt. Im Zusammenspiel mit den anderen Filmen kann Staging Death im Kinosaal allerdings sein disruptives Potential als Kampfansage an den elitären Charakter eines Mediums entfalten, das dem Exzess nur im Trash frönt und alles, was nicht der hegemonialen Filmsprache entspricht, auf Youtube oder andere “fragwürdige” Plattformen verbannt.
Doch lasst uns zwei Schritte zurücktreten. Zwei zurück und dann drei vor. Ein Rhythmus, der ein Tanz sein könnte, visuell aber auch an das Flackern von Feuer erinnert. Zwei Frames zurück und dann drei vor. Die Bilder, die Maxime Jean-Baptiste in seinem Kurzfilm Moune Ô ablaufen lässt, rattern, penetrieren, hämmern sich in das Auge der Betrachter*in. Zwei zurück und dann drei vor. Hypnotisierende Videoaufnahmen von tanzenden Menschen, die durch eine ausgelassene Parade in Paris öffentliche Aufmerksamkeit auf den Kinostart eines Films lenken. Die Menschen, die hier gezeigt werden, gehörten Großteiles der französisch-guayanischen/afrikanischen Diaspora in Frankreich an. Der Film, welcher hier nebensächlich ist, feiert die französische Präsenz in Guyana und wurde von weißen Franzosen produziert, die das Land in ihren Bildern exotisieren und das Leben von Jean Galmot glorifizieren. Die Parade: ein smarter Marketing Move der Produktionsfirma, um den Film zu bewerben.
Die Verzögerung des Bewegtbildes lässt uns innehalten, sie verändert unseren Blick und somit das unantastbare Filmbild, welches einst gedreht wurde, um kolonialistische Ausbeutung zu legitimieren – jedenfalls nicht, um diesen Gewaltakt zu hinterfragen, und vielleicht sogar, um ihn zu verschleiern. Die alten Aufnahmen werden nun erneut heraufbeschworen, aber sie kehren hier nicht als Fluss von Bildern, sondern in einer zerstückelten Form zurück, welche innehalten lässt. Inne hält auch ein Kind, das in den Himmel starrt. Um ihn herum tanzen die Menschen, neben ihm lacht ein anderes Kind, vielleicht seine Schwester. Während die Bilder in ihrem eigensinnigen Rhythmus über die Leinwand ruckeln, steht nur der kleine Junge ruhig da, widerständig gegen die Instrumentalisierung seines Körpers für das Filmbild.
Innehalten, um zu reflektieren, um Widerstand zu leisten gegen eine kinematografisch- imaginierte Inszenierung. Eine Inszenierung von nicht gewaltvoller Ausbeutung, die nichts mit der Realität zu tun hat, ähnlich wie die Bilder eines einst blau-grünen Flusses in (Französisch-) Guayana der schon lange nur noch in Erinnerungen existiert. Was bleibt sind die Aufnahmen des Flusses, welche sich mit dem verzerrten Videomaterial der Tänzer*innen abwechseln und der, würde man ihn heute aufsuchen vor allem die Auswirkungen von industriellen Goldminen in seinem trüben Wasser widerspiegeln würde. History has already been written. Die Filme – und somit auch das „offizielle“ Narrativ – sind abgedreht. Bestehende Wissenssysteme und sich selbst reproduzierende Narrative sind schwer zu fassen. Sie winden sich, entgleiten einem und verbergen sich hinter der Illusion von Objektivität und Natürlichkeit. Ich frage mich: Wie kann die Kamera, die doch immer im Dienste des Systems steht, ausgetrickst werden, um zumindest einen kurzen Moment des Widerstands sichtbar zu machen?
In Nicolás Peredas Kurzfilm Flora gibt es eine Szene, in der eine der Figuren uns erklärt „[t]o screen is both to project and to conceal“. “To project” kann hier zum einen als technische Notwendigkeit des Kinos verstanden werden – und zum anderen als Rezeptionsgeschichte. Wenn ich einen Film schaue, fließen auch immer meine eigene Position, meine Vorurteile, meine Stimmung und meine Erwartung mit in die Bewertung des Gesehenen hinein. Peredas Film spielt mit dem Wissen um die subjektive Wahrnehmung der Zuschauer*innen und die Erwartungen, die wir unbewusst in uns tragen, wenn wir klischeehafte Bilder von einer mexikanischen Bar, leeren Hotels oder einer Übergabesequenz auf einer Landstraße im mexikanischen Nirgendwo sehen. Die Filmsprache, die sich mit dem Hollywoodsystem weltweit durchgesetzt hat, bei der ein Schnitt auf den anderen folgt und die Handlungen, obwohl so vertraut, oft keine Zeit zur Reflektion lassen, verwischt die zugrundeliegenden Inszenierungen, welche sich zu oft als falsche Wahrheit in uns festsetzen und unbewusst weiterleben. Dies wird hier nicht zugelassen. Der Filmemacher nimmt uns an die Hand und führt durch den Film, den er vorgibt zu drehen. Schnelle Montagesequenzen rufen wie einst bei Godard Irritation hervor und lassen uns nicht vollständig in die Filmwelt eintauchen. Auch eine Stimme zeigt uns den Fehler in den Bildern. Das ist gespielt! Das sind Schauspieler, das ist nicht echt. Auch hier scheint der Widerstand gegen ein unbewusst inszeniertes und reproduziertes Wissenskonstrukt und den sich daraus bildenden Stereotypen im Innehalten gefunden werden zu können. Der Film mag inhaltlich vielleicht in erster Linie gegen die paradoxe Darstellung von Drogenkriegen in Mexiko anarbeiten. Darüber hinaus steigt er aber als Teil des filmischen Kollektivs gegen den Mainstream-Film in den Ring. Wir sehen hier ein Essay, das Fragen offenlässt, ohne die übliche Arroganz an den Tag zu legen. Es erlaubt den Zuschauer*innen gerade durch seine Behutsamkeit gegenüber den Figuren und Bildern, die Historizität und Konstruiertheit des Erzählten selbst zu reflektieren.
Eine der Figuren war einst ein Komparse in einem anderen bekannten Film über Drogenkriege in Mexiko. Die Kamera, die sich in Peredas Film von der vorgegebenen Lesart löst und Bilder und Personen beleuchtet, die nicht dazu gedacht waren, in den Vordergrund zu treten, scheint sich wie ein roter Faden durch das Filmprogramm zu ziehen. Am deutlichsten fällt dies wohl in Hardly Working auf, welcher eine Systemkritik durch die liebevolle poetisierung eines doch eigentlich kommerziellen Computerspieles und den darin lebenden NPC’s (non–player character) greifbar macht. The spectacle is vulnerable – “cut into it, tear it to pieces, turn it upside down, pick up the camera, fill the screen with something else.” Aus den Scherben des Spiegels bildet sich ein neues Muster, ein Mosaik, mit dem das Bild verzerrt wird und das keine glatte und unantastbare Reflexion der bestehenden Ordnung mehr zulässt. Wie können wir Geschichte abbilden, für die wir keine Bilder haben – die Frage wird hier auf den Kopf gestellt. Das politische Potential, wenn man so will, findet sich gerade in den abgedrehten Bildern, im Hintergrund, im Spiegelbild der vergangenen Gesellschaft. Auf den politischen Aufbruch, die Diskursverschiebungen und globalen Ereignisse der letzten Jahre antworten die Filme mit der Vergegenwärtigung von Filmgeschichte. So stehen die Filme nebeneinander, um ins Gespräch zukommen. Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin wird nach Rumänien verlegt und kann damit etwas von seiner, im Filmkanon verloren geglaubten Schlagkraft zurückgewinnen im Zusammenspiel mit einer veränderten Perspektive. Auf diese Weise löst MINIMUM STAGED ganze Bereiche des Films aus einem Schubladen- und Nischendasein und macht sie für ein heutiges Publikum von Nichtspezialist*innen zugänglich – und das nicht nur im Sinne der Verfügbarkeit. Es geht auch darum, die Filme in ihrer spezifischen Aussagekraft zu vergegenwärtigen und neu zu denken.
Offen bleibt die Frage, was es bedeutet, dass der Film die Gesellschaft spiegelt, ob er will oder nicht. Kracauers Urteil bestimmt das Kino als einen Ort, der immer schon Teil kapitalistischer Reproduktionsinteressen ist. Dem Film wird damit sein subversives Potential zur Reflexion auf grundlegende gesellschaftliche Machtstrukturen und deren Unterwanderung abgesprochen. So betrachtet, werden durch die produktive Kraft kinematographischer Inszenierungen immer nur diejenigen Bilder und Strukturen gestärkt, auf denen eine Gesellschaft bereits aufgebaut ist. Was aber bedeutet es dann, wenn Arbeiten wie die Filmreihe MINIMUM STAGED Momente des Ausrutschens und Stolperns auf die Leinwand bringen? Wenn nicht nur Bilder gezeigt werden, sondern die Konstruiertheit der Bilder und ihre Grenzen selbst zum Thema gemacht werden? Derartig inszenierte Brüche spiegeln zwar wie Scherben weiterhin die Gesellschaft, liefern aber kein scharfes und klar umrissenes Bild, in das sich hinein versinken lässt. Die Bruchstellen eines Films, der seine eigene Inszenierung bebildert, lösen Irritationen aus und eröffnen in ihrer Unschärfe Räume für wirkliche Reflexion. Der Widerstand, der sich in den Filmen zeigt, ist dabei nicht revolutionär. Er ist poetisch. Er lässt uns innehalten, auflachen und abschweifen, er regt uns auf und wenn wir Glück haben, regt er uns zum Nachdenken an. All das sind Dinge, die einem Ausrutschen gleichen. Einem gedanklichen Ausrutschen. Vielleicht lässt sich die Kamera nur austricksen, wenn wir den Blick abwenden von der eigentlichen Geschichte und wie die Namenlose Wäscherin in Hardly Working einfach stehen bleiben und zum Himmel blicken. Die Scherben der Filmgeschichte und somit des gesellschaftlich Unbewussten liegen vor uns – schön sehen sie aus.