Prozesse des Erinnerns durch immersive Erfahrungen im Theater Draußen vor der Tür

Vor einigen Jahren war ich zu Gast im Hamburger Thalia Theater und sah eine Adaption des Theaterstücks Draußen vor der Tür (R: Luk Perceval, Premiere: 02. April 2011) von Wolfgang Borchert. Zurückblickend ist dieser Theaterbesuch zu einer meiner eindrücklichsten Theatererfahrungen geworden. Ein Erlebnis, welches mir immer noch sehr präsent ist und durch das ich zum vielleicht ersten Mal verstanden habe, zu was Theater fähig ist und was es bewirken kann. Das Stück hat mich in seinen Bann gezogen und dazu geführt, dass ich beim Verlassen des Theaters in Tränen ausbrach und es eine Weile dauerte, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Rückblickend würde ich diese mitreißende Erfahrung und das Hineingezogen werden in die Thematik als einen immersiven Prozess beschreiben, der mich nachhaltig beeinflusst hat. Interessant dabei ist, dass diese Immersion auch mit reflexiven Aspekten zu tun hatte, die während und nach dem Stück auftauchten.

Im Folgenden möchte ich Überlegungen darüber aufstellen, wie dies zustande gekommen ist. Meine These ist dabei, dass durch die Präsenz, das tatsächliche vor Ort sein im Theater, das Thema Krieg und seinen Auswirkungen sehr gut nachvollziehbar und zu einem bestimmten Grad auch fühlbar gemacht wurden.
In dem Stück geht es um den ehemaligen Soldaten Beckmann, der nach dem Zweiten Weltkrieg in seine Heimatstadt Hamburg zurückkehrt und versucht, dort wieder Anschluss zu finden. Ein Versuch, der scheitert, da er überall zurückgewiesen wird. Man kann davon ausgehen, dass das Stück einigebiografische Elemente aufweist, da Borchert selbst Hamburger war und im Krieggekämpft hat. Hier wurden also eigene Erfahrungen verarbeitet.

Das Interessante an der Adaption ist, dass es sich keinesfalls um eine naturalistische Darstellung handelte. Das Bühnenbild war sehr zurückgenommen und bestand im Grunde nur aus einem riesigen Spiegel, der die Rückwand des Bühnenraums darstellte und einer Drehscheibe am Boden. Gespielt wurde das Stück von drei Schauspieler*innen und einigen Statist*innen, welche mit Ausnahme von Felix Knopp, der Backmann verkörperte, in verschiedene Rollen schlüpften. Diese Transformation der Schauspieler*innen fand dabei größtenteils mittels kleiner Veränderungen der Kostüme während des Stücks auf der Bühne statt. Außerdem wurde auf moderne Rockmusik zurückgegriffen. Eine Band, die sich am äußersten Bühnenrand befand und für das Publikum nur spärlich zu erkennen war, spielte klassische Gitarre, Schlagzeug und Bass und Felix Kopp, der sich in der Mitte der Bühne befand, sang, schrie oder sprach dazu.

Abb. 02 Foto von Armin Smailovic

Es wird also deutlich, dass Immersion in diesem Fall nicht durch eine besonders detailgetreue Darstellung der damaligen Zeit hervorgerufen wurde. Wir haben es hier viel mehr mit Elementen zu tun, die an das Epische Theater erinnern und einen Verfremdungseffekt darstellen. Dabei wird bewusst ein Bruch in der Narration erzeugt und daran erinnert, dass man sich in einem Theaterstück befindet. Wenn sich die Schauspielerin Barbara Nüsse beispielsweise mitten auf der Bühne und in wenigen Augenblicken von einer jungen Frau zu einem alten General verwandelte, wird durch einen Bruch ein Szenen- und Ortswechsel markiert. Das Umziehen, das normalerweise hinter der Bühne stattfindet, erzeugt eine Reflexion über Theater im Allgemeinen und das Stück und seine Thematik im Speziellen.

Für mich haben diese kleinen Pausen einen Raum erzeugt, um über das gerade Gesehene nachzudenken. Die Szenen, welche von der Suche nach sozialen Kontakten, Arbeit und auch dem versuchten Selbstmord handeln, haben dadurch in ihrer Intensität sogar zugenommen. Zusätzlich war ich immer wieder von dem schauspielerischen Talent fasziniert, mit welchem die Verkörperung der unterschiedlichen Rollen und die Wechsel zwischen ihnen ermöglicht wurden. Die reflexiven Momente haben mich also dazu gebracht, den Inhalt des Stücks und das Schauspiel intensiver zu erleben und haben somit die Immersion gefördert.

Ich habe gerade das Theater hier als ein sehr wichtiges Medium erlebt, da durch meine Präsenz im Theaterraum und die Unmittelbarkeit des Stücks ein Gefühl des Mittendrinseins und der Involviertheit erzeugt wurde.

Im Nachhinein habe ich die Verbindung von immersiven und reflexiven Verfahren mit einem historischen Thema als sehr spannend und bereichernd wahrgenommen. Ich empfinde es als sehr wichtig, dass die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit nicht in Vergessenheit geraten. Durch immersive Theateraufführungen wie die des Thalia Theaters werden diese Ereignisse wieder sehr präsent ins Gedächtnis gerufen und stellen auf diese Weise so etwas wie einen Zeitzeug*innenbericht dar.