Die Entführung der Luftschlossprinzessin. Kindliche Interaktion mit dem Bühnengeschehen

Ein Essay von David Marc Jagella

Es ist der 21.06.2019. Auf der Bühne des Figurentheaters Lilarum wird die Luftschlossprinzessin von Prinz Eisnebel gekidnappt, während blökende Wolkenschafe über fantastische, blaue Wiesen hüpfen. Das Regenbogenmärchen (R.: Dieter Bratsch/Traude Kossatz; Premiere: 01.06.2019), ein Stück für Kinder ab vier Jahren, ist von Menschen des angestrebten Zielpublikums gut besucht.

Der Zuschauer*innenraum ist deutlich abgetrennt von der Guckkastenbühne – es handelt sich in dieser Hinsicht um einen relativ traditionell gestalteten Theaterraum. In sich aufgeteilt ist der Zuschauer*innenraum in einen Bereich mit klassischer Bestuhlung und einen mit kleineren Sitzmöglichkeiten für Kinder. Ein Bewegen des Publikums scheint aufgrund der starren Trennung zwischen Spiel- und Betrachtungsraum nicht intendiert. Während der Aufführung bleibt diese in der Architektur bereits angelegte Trennung weiter bestehen. Das Publikum wird weder direkt noch indirekt von den Figuren angesprochen. Auch andere Möglichkeiten zur direkten Einbindung der Rezipient*innen in die Spielsituation werden nicht gegeben. Umso erstaunlicher ist, dass sich das Publikum dennoch aktiv in die Aufführungssituation zu integrieren versucht. Häufig rufen Zuseher*innen hinein und kommentieren laut die Spielsituation. Am auffälligsten und lautstärksten passiert das, wenn eine als ›böse‹ konnotierte Figur auf die Bühne gebracht wird. Vor allem die Bühnenpräsenz des Entführers Prinz Eisnebel führt zu Zwischenrufen. Er solle doch die Prinzessin freigeben, bittet das Publikum und gibt ihm Ratschläge, wie er sein Verhalten noch umkehren könnte. Die Aktivität des Publikums ist interessant, da die Bühnensituation ebenso wie die grundsätzliche Gestaltung des Theaterraums nicht aktiv dazu auffordert, bzw. anregt, in Interaktion mit der Spielsituation zu treten. In einem Theater, welches nicht für Kinder konzipiert, die Trennung zwischen Zuschauer*innenraum und Aktionsraum aber gleich gestaltet ist, wäre eine solche Interaktion aufgrund der von Erwachsenen verinnerlichten und eingeübten Verhaltensnormen kaum denkbar.

Abb. 01 Die »Luftschlossprinzessin« (Mitte) zusammen mit dem »Seifenblasenprinz« und dem »Wolkenschaf«. Bild zur Verfügung gestellt von LILARUM.

Der Wunsch der jungen Zuschauer*innen, trotz der eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten in die Aufführungssituation einzugreifen, führt mich zu einer Frage, die Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist: War das junge Publikum in einer derart immersiven Erfahrung, dass es eingreifen musste, oder hat es die Verhaltensregeln, die sich erwachsene Rezipient*innen einer Aufführungssituation auferlegen, noch nicht internalisiert?

Zur Bearbeitung dieser Frage muss vorerst ein wichtiger Punkt geklärt werden. Können Kinder der genannten Altersgruppe eine immersive Erfahrung in Bezug auf ein mediales Artefakt haben? Ich möchte für diese kurze Diskussion Werner Wolfs Begriff der ästhetischen Illusion im Vergleich zum Begriff der Immersion einführen. [1] Dies erscheint sinnvoll, da Wolfs Definition des Begriffs eine absolute Immersion mit einer gewissen Distanz zum ästhetischen Artefakt verknüpft. [2] Aufgrund jener Verknüpfung scheint die Theorie ein passender Ausgangspukt zu sein, um die intensiv-immersive Erfahrung von Heranwachsenden zu diskutieren, auch wenn Wolf nicht explizit Kinder als Rezipient*innen denkt. Ob die Begrifflichkeiten aus dem Feld Immersion-Reflexion in Bezug auf kindliches Verhalten zu erwachsenem Erfahren deckungsgleich sind, müsste man weiters untersuchen.

Bei der Definition Wolfs ist es wichtig, dass die ästhetische Illusion nie zu einer vollständigen Illusion werden kann. Während der Erfahrung einer ästhetischen Illusion ist eine erwachsene Person als wahrnehmender, bzw. erfahrender Mensch immer im Wissen darüber, dass man es mit einem Artefakt, mit einer medialen, durch Zeichensysteme hergestellte Realität zu tun hat. Kinder müssen also grundlegend zwischen medialer und eigener Wirklichkeit unterscheiden können, um eine ästhetische Illusion nach Wolf erfahren zu können. Könnten sie das nicht, wäre Wolfs Begriff als Auslöser eines intensiven Erfahrens, welches mit Aktivität zusammenhängt, nicht zum Bearbeitungsinstrument der Ausgangsfrage tauglich.

Außerdem hieße es auch, dass die Versuche der Zuseher*innen, in die Aufführung hineinzuwirken, auf ihrem Glauben, es handle sich hierbei um Realität, basieren könnten. Das Wissen über Zeichenfunktionen, also das Wissen darüber, dass ein Objekt für etwas anderes steht als sich selbst, wird nach DeLoache »repräsentationale Einsicht« bezeichnet. [3] In Untersuchungen hat sich gezeigt, dass dreijährige Kinder bereits die repräsentationale Funktion von Modellen verstehen können – von Bildern bereits ein halbes Jahr früher. [4] Aus diesen Untersuchungen lässt sich erstens schließen, dass das Verstehen der repräsentationale Funktion medienabhängig ist, und zweitens ist davon auszugehen, dass das Publikum des Figurentheaters Lilarum den Zeichencharakter der Aufführungssituation verstanden hat. Daraus gefolgert scheint es, als könnte die Aktivität des Publikums bei der Aufführung des Regenbogenmärchens grundsätzlich auf eine immersive Erfahrung im Sinne der ästhetischen Illusion nach Wolf zurückgeführt werden. Ob gesteigerte Immersion in Bezug auf die Aufführung oder die noch nicht eingeübten Verhaltensweisen für das außergewöhnliche Publikumsverhalten verantwortlich sind, lässt sich in diesem Essay nicht abschließend klären.

Abb. 02 Das blökende »Wolkenschaf«. Bild zur Verfügung gestellt von LILARUM.

Eines bleibt anzumerken und bezieht sich im Grundsätzlichen auf beide möglichen Erklärungsversuche. Egal ob man nun die Immersion von Kindern oder ihre eventuell unfertige Internalisierung von Verhaltensweisen, bzw. noch nicht abgeschlossenen Lernprozesse betrachtet, ist es wichtig zu bedenken, dass sich Kinder aufgrund ihrer Befindlichkeit in einem laufenden Entwicklungsprozess in anderer Weise immersiv zu unserem Gesellschaftssystem verhalten als Erwachsene. Dies sollte grundsätzlich mitgedacht werden, wenn man über das Verhalten von Kindern in Bezug auf Medien spricht. Wie Andrea Seier aufbauend auf der Argumentation Christoph Menkes ausführt, sind Individuen angewiesen auf die Praxis der Übung. Die Subjektivierung [5] ist das Ergebnis von wiederholten Übungen, die auf konventionalisierten Techniken fußen und Medien als Voraussetzung haben. Die Übungen, welche den Erwerb einer Handlungsmacht über sich selbst ermöglichen, müssen mithilfe der Techniken erlernt werden. Der Sinn dieses Erwerbs von Handlungsmacht liegt darin, zu einem funktionierenden Subjekt eines Systems zu werden. [6]

Ganz am Anfang dieses Prozesses der Subjektivierung befinden sich Kinder. Um Teil der Gesellschaft zu werden, müssen sie viele Fertigkeiten durch ständig wiederholte Übungsprozesse erlernen. Auch in Bezug auf Medien befinden sich Kinder in diesem Prozess. Kinder entwickeln bereits in frühen Lebensjahren eine Zeichenkompetenz und ein damit verbundenes Medialitätsbewusstsein, dass es ihnen ermöglicht, weitere Medienkompetenzen zu entwickeln. [7] Der Rückgriff auf Seiers Ausführungen bedenkt selbstverständlich mit, dass die Zuseher*innen des Figurentheaters bereits Zeichenhaftigkeit verstehen können. Allerdings scheint es mir wichtig, auch in Bezug darauf, wie intensiv Kinder mediale Erfahrungen erleben, darauf zu verweisen, dass sie sich in einer anderen prozessualen Beziehung gegenüber der Gesellschaft befinden als Erwachsene.

Direktnachweise

[1] Zur Definition der ästhetischen Illusion nach Wolf, vgl. Wolf, »Aesthetic Illusion«, S. 51f.

[2] Vgl. Ebd., S. 16f.

[3] Vgl. Nieding/Ohler, »Mediennutzung und Medienwirkung bei Kindern und Jugendlichen«, S. 382.

[4] Vgl. Ebd., S. 382f.

[5] Das Subjekt wird hier auch im Sinne Foucaults gedacht, vgl. dazu Bublitz.

[6] Vgl. Seier, Mikropolitik der Medien, S.40f.

[7] Vgl. die Dimensionen der Medienkompetenz nach Groeben in Süss, »Mediensozialisation und Medienkompetenz«, S. 374.

Quellenverzeichnis

Bublitz, Hannelore, »Subjekt«, in: Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Clemens Kammler/ Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2014, S. 293-296.

Nieding, Gerhild/Ohler, Peter, »Mediennutzung und Medienwirkung bei Kindern und Jugendlichen«, in: Medienpsychologie, hg. v. Bernad Batinic/Markus Appel, Heidelberg: Springer Medizin 2008, S. 380-398.

Seier, Andrea, Mikropolitik der Medien, Berlin: Kadmos 2019.

Süss, Daniel, »Mediensozialisation und Medienkompetenz«, in: Medienpsychologie, hg. v. Bernad Batinic/Markus Appel, Heidelberg: Springer Medizin 2008, S. 362-378.

Wolf, Werner, »Aesthetic Illusion«, in: Immersion and Distance Aesthetic Illusion in Literature and Other Media, hg. v. Werner Wolf/Walter Bernhart/Andreas Mahler, Amsterdam/New York: Rodopi 2013, S. 1-66.