Ensaio para uma Cartografia

R: Mónica Calle, Halle G/MQ, 14./15. Mai 2019

Streichzart bis nackt (L.S.)

Mónica Calle präsentiert in ihrer Performance „Ensaio para uma Cartografia“ eine performative Ästhetik des Versuches und setzt einer auditiven Männerdominanz eine visuelle Illustration weiblicher Widerspenstigkeit entgegen.

Mittwoch, 15. Mai, 20.30 Uhr. Dreizehn Frauen betreten die Bühne der Halle G des Museumsquartiers. Jede trägt ein Streichinstrument bei sich. Die portugiesische Performancekünstlerin Mónica Calle erklärt, was nun im Weiteren passieren wird, während eine ihrer Performerinnen scheinbar kläglich, aber mit einer euphorischen Anstrengung des guten Willens an der deutschen Übersetzung dessen zu scheitern scheint. Dieser Translationsversuch misslingt so sympathisch, dass man sich bereits jetzt schon fragen kann, wieviel Intention dahinter steckt. Was wir aus ihrer Übersetzung aber verstehen können ist, dass es um den Prozess geht, und darum, Verbindungen zu schaffen.

Alle dreizehn Frauen beginnen nun, sich ihrer Kleider zu entledigen und ihre Instrumente zu stimmen, während aus dem Off eine Geräuschkulisse konstruiert wird, die historische Probeaufnahmen eines Orchesters vermuten lässt. Im Playback hören wir, wie ein Dirigent mit der Probe des Bolero beginnt. Dazu beginnen die Frauen, sich in Keilformation zu formieren und in tänzerischer Synchronität zu bewegen. Durch Unterbrechungen des Maestro, werden auch die Damen jedesmal aus ihrer Choreografie herausgerissen. Sie nehmen es gelassen, machen eine kurze Pause. Während der Maestro seinem Orchester erneut Anweisungen gibt, dehnen sie sich die Füße oder den Hals und bereiten sich darauf vor, wieder mit der „Probe“ zu beginnen. Es entsteht eine Korrelationsbeziehung von Körper und Musik, die ihre Einzigartigkeit einerseits darin begründet, dass auch auf Probenpausen und andere Unterbrechungen reagiert wird und andererseits den weiblichen Körper in einer starken, physischen Verbindung auf der Bühne, mit einem von Männern dominierten Orchester im Off konvergieren lässt. Um dieses lebendig-feministische Bild aufblühen zu lassen, müssen die dreizehn Damen keine Tänzerinnen sein.
Zweimal wechseln Musikstück und Dirigent. Die Maestri sprechen auf Deutsch, Italienisch und Englisch von der Zurichtung diverser Instrumente und der Nebensächlichkeit eines Mittelmaßes. Selbstverständlich hat dies auch auf die Choreografie der Performance Einfluss, doch der Ravels Bolero kommt immer wieder zurück. Während das Publikum langsam aber sicher aufgrund der Langatmigkeit der Pausen und der ewigen Repetition von Musik und Bewegung langsam nicht mehr weiß, ob es sich hier um eine bewusste repetitive Folter handelt, wird klar, dass für die Frauen der Weg das Ziel ist. Im Klangraum männlichen Dirigats entfalten diese nackten Frauenkörper sich als Teil der signifikanten Wirklichkeit und präsentieren eine, ihre wunderschöne Physis im Zentrum positionierende Ästhetik des Versuchs, die ihresgleichen sucht.

Im nächsten Teil beginnen die Performerinnen sich, eine nach der anderen, Spitzenschuhe überzustreifen, um dann separat ihren Versuch zum Besten zu geben, sich ‚en pointe‘ zu bewegen. Das Motiv des ‚Ausprobierens’ ist das omnipräsente Element in dieser Performance. Auch wenn das Publikum durch endlose Wiederholungen an seine nervlichen Rezeptionsgrenzen gelangt, scheint das nackte Ensemble auf der Bühne eine intensive, mentale als auch physische Katharsis zu erleben. Sie durchkreuzen systematisch das Stereotyp einer heroischen Künstlerschaft und recodieren die, innerhalb des Publikums angelegten, Erwartungshaltungen. Diese subversiv-dilettantische Dramaturgie zeugt souveräne Anarchistinnen, die auf Basis einer scheinbaren Endlosschleife des Bolero eine Transformation durchlaufen. Die Damen sind am Ende der Performance körperlich genauso fertig wie das Publikum nervlich, und dennoch ist auf beiden Ebenen eine Verwandlung geschehen, die sich vor allem als Erleichterung charakterisiert.

Obgleich diese feministische Performance ein subversives Unikat darstellt, wird der Bolero uns auch noch einige Zeit nach dieser Aufführung verfolgen. Man mag spekulieren, ob absichtlich oder nicht, aber Ravels Orchesterstück wird im Anschluss im Foyer, sowie draußen bei den Rauchenden weiterhin aus den Lautsprechern zu hören sein. Ich beginne, Assoziationen mit Kubricks Ludovico-Technik in „Clockwork Orange“ in meinem Kopf zu spinnen, denn langsam ist dies für meine Ohren reinste auditive Folter. Wahrscheinlich aber kristallisiert sich darin die wohl die größte Meisterschaft dieser Performance heraus, denn der große Sieg dieser Frauen liegt in ihrem Scheitern und in ihrem immer wieder erneuten Probieren, egal wie viele Wiederholungen es benötigt. Während die Maestri nämlich Anweisungen an ihre „Herrn“ geben, konterkariert Calle mit ihrer Entourage aus Powerfrauen und ihrem 120-minütigen ‚Kollektiv-Versuch‘ die Suggestion von Männerdominanz und kreiert Momente femininer Schönheit, die die Widerständigkeit des weiblichen Körpers diesen Orchesterwerken gegenüberstellen.

Demaskierung von Körpern durch Brutalität der Bewegung (M. Z.)

Gleich zu Beginn der Performance unter der Regie von Mónica Calle wird klargestellt, dass mit Materialien gearbeitet wird, welche die Performerinnen nicht ihr Eigen nennen: klassische Musik und Tanz. Keine von ihnen verfügt über eine traditionelle musikalische Ausbildung; es geht ihnen mehr darum, die Grenzen des eigenen Körpers auszutesten und das, was ihn umgibt. Die Performerinnen suchen nach einer Verbindung untereinander, mit sich selbst und dem Publikum.
Die Frauen entledigen sich vor unseren Augen ihrer Kleidung und begeben sich in Formation, um sich dann in einheitlichem Tanzschritt zu Maurice Ravels Boléro zu bewegen. Darin ist auch Calles eindeutige Inspiration zu situieren, da das Musikstück selbst die immer gleiche Melodie wiederholt, und ebenso wie Calles „Ensaio para uma Cartografia“ kontrovers gelesen werden kann. Während sich in dieser Interpretation elf Performerinnen auf der Bühne aufhalten, intendierte Ravel seine Komposition für Ida Rubinstein als Einzeltänzerin, die bei der Uraufführung, umringt von 20 Männern, erotisch tanzend die Rezeption spaltete.
Die eingespielte Musik beinhaltet auch die Stimme eines Dirigenten, der das Musikstück immer und immer wieder abbricht, um von Neuem zu beginnen. Er gibt Anweisungen, kommentiert und singt leidenschaftlich mit, was der Situation einen komödiantischen Effekt verleiht. Die Performerinnen nutzen diese Pausenzeit, um sich zu dehnen; sobald die Musik jedoch wieder ansetzt, sind ihre Bewegungen kraftvoll, und der direkte Blickkontakt zum Publikum wird gesucht. Die Mimik der zentral tanzenden Performerin erweist sich auch nach einem späteren Wechsel der Formation als besonders intensiv, bei den anderen variiert er zwischen Konzentration, Stolz, Zurückhaltung und Ermüdung.
Die sich beinahe endlos wiederholende Bewegung verlangt ihnen Kraft ab, wodurch sichtbar Intimität und Verbundenheit zwischen ihnen entsteht, was unter anderem während einer Ballettsequenz deutlich wird, in der sie sich gegenseitig ablösen.
Die Brutalität des Stücks wird für das Publikum durch die ewige Repetition, sowie die angestrengten Gesichter der Frauen ersichtlich, die scheinbar ohne Anfang und Ende die immer gleichen Bewegungsabläufe vollziehen. Bewegungen werden ausgeführt und in der Konzentration selbst beobachtet, bis sich der eigene Körper scheinbar fremd anfühlt.
Eine Variation des Themas findet sich in einer Sequenz, in der durch Licht Streifenwirkung am Boden erzeugt wird, welche die Frauen beim abwechselnden vor- und rückwärts Laufen in Licht und Schatten hüllt. Die Situation birgt eine ‚hauntologische‘ Qualität und die Effekte erinnern an das frühe Kino. Es geht um das Sichtbare und das Unsichtbare, was als eine Referenz auf den künstlerischen Prozess gelesen werden könnte, in der Dinge entstehen und wieder verworfen werden oder Wege eingeschlagen und wieder revidiert werden.
Durch den einheitlichen Tanzschritt und die entstehende Verbundenheit zwischen den Performerinnen mittels der körperlichen Auslaugung werden Körperkonventionen aus dem Blickfeld verbannt und man achtet nicht mehr auf die Nacktheit, sondern erfährt Hypnose durch die Konformität der Bewegung. Die Anstrengung ist in den Gesichtern der Frauen abzulesen und man entwickelt Solidarität für sie, aber auch Bewunderung.
Während die körperliche Ermüdung immer deutlicher wird, halten sie sich teilweise gegenseitig an den Händen, bevor sie nach zwei Stunden endlich wieder auf zwei Beinen gleichzeitig stehen dürfen. Die Standing-Ovations sind mehr als verdient.

Gemeinschaft der Vielen (C.F.)

In Österreich unterzeichnen derzeit große Kulturinstitutionen wie Einzelpersonen die ‚Erklärung der Vielen‘, mit dem Ziel, solidarische Netzwerke anzuregen, um Räume der Vielfalt und Mehrdeutigkeit zu schaffen. Für Solidarität und ein gemeinsames Einstehen, gegen abwertende Politik und die Instrumentalisierung von Kunst soll das ‚Bündnis der Vielen‘ mobilisieren. Am Tag der Erstunterzeichnung tanzt Mónica Calle mit zehn Frauen ähnliche Anliegen in der Halle G des Museumsquartiers.
Nach zwei Stunden glänzt der Schweiß auf den nackten Körpern der Tänzerinnen, Erschöpfung, Erleichterung und Freude ziehen abwechselnd über die Gesichter. Es sind kleine Momente, die entdeckt werden können in den immergleichen Bewegungen und Abläufen. Es sind kurze Berührungen an der Schulter, aufmerksame Blicke und das Wandern der Finger, die langsam und zart ein Halten an den Händen anbahnen.
Mónica Calle ist Schauspielerin und Regisseurin und gründete 1992 in Lissabon das Projekt ‚Casa Conviente‘, mit dem sie zu marginalisierten Bereichen arbeitet. Die Produktion „Ensaio para uma Cartografia“ wurde in Portugal ausgezeichnet und entstand aus einer persönlichen und artistischen Krise heraus, so Calle.
Trotz Ravel, Beethoven, Streichorchester und Ballett, alles Inbegriffe von Perfektion und Strenge, zeigen in „Ensaio para uma Cartografia“ alle Teilnehmenden ihre eigene Stärke – abseits von perfektioniertem Handwerk und Konkurrenz. Männer sind nur zu Beginn auf der Bühne, danach verschwinden sie und prägen doch den weiteren Verlauf.
Die Frauen wechseln zwischen Ballettensemble und Streichorchester in Probesituationen, die geprägt sind durch ständige Wiederholungen, Abbrüche und neue Versuche. Sich immer wieder von Neuem zu versuchen, ein Streichinstrument spielen ohne den erwünschten Ton zu erzeugen, sich körperlich zu verausgaben und immer wieder zu tanzen, verbindet die Frauen. Die Zusammenarbeit von Laien und professionellen Tänzerinnen geht auf in einem gemeinsamen Wagnis, in einer Suche nach Ausdruck und individueller Schönheit.
Ungeschützt und verletzlich setzen sich die Tänzerinnen der körperlichen Anstrengung und den Blicken des Publikums aus. Es gebe kein Geheimnis, alle kämen vom selben Anfang, erzählt Calle zu Beginn. „Wir sind alle souverän, alle Musiker, Tänzer, Dichter, wir müssen nur finden, was in uns ist“ – eine Botschaft, die sichtbar wird.
Calle schafft es, ein Plädoyer für die Schönheit des Versuchens zu setzen und zeigt gelebte feministische Solidarität. Nicht pathetisch, moralisierend oder pädagogisch, sondern getanzt.


Probe von Stücken, nicht Aufständen (Grigorij Achimotav)

Und auf und ab und auf und ab und drauf und ab und auf und ab und drauf & ab, keine Müdigkeit vorschützen, wer schön sein will muss leiden, wer etwas im Leben erreichen möchte, muss leiden, wer nicht trainiert, verliert, auf und ab und auf und ab und Arme hoch und Beine hoch und runter und auf und ab und drauf und ab, ich sage euch: „Heute ist genug Zeit, um dünn zu werden“, deshalb auf und ab und drauf und platt.

Mónica Calles Performance „Ensaio para uma Cartografia“ (Versuch einer Kartografie) geht an die Ursprünge der Performancekunst zurück und presst aus den elf splitterfasernackten Performerinnen bis zum Kollaps den letzten Tropfen Performanz, bis selbst der Schweiß nicht mehr perlen möchte. Ein einzelner Tanzschritt wird so oft wiederholt, dass sich das Mitzählen verbietet. Dazu läuft Maurice Ravels Marterkomposition „Boléro“ in Dauerschleife. Wer also nicht aus reiner Empathie mit den Performerinnen in Trance verfallen ist, der wird von Ravel in den Limbus zwischen Ekstase und Erschöpfung befördert. Dass die Auszeit der nackten Performerinnen darin besteht, auf Streichinstrumenten zu spielen, die sie nicht beherrschen, darf als weitere Knechtung verstanden werden und das nächste Auf und Ab und Auf und Ab wartet nichtsdestotrotz. Die Spitzenschuhe warten bereits im Halbdunkel.

„Wenn ihr das Verlangen habt, auf eure Smartphones zu schauen, dann ist unsere Wiedervereinigung mit euch gescheitert“, hat Calle am Anfang der Performance paradigmatisch verlauten lassen. Da stehen die Performerinnen noch in Alltagsanzügen auf der Bühne. Damit hat Calle etwas ins Publikum einprogrammiert. Wer sich langweilt, der verrät das Stück, der schmälert die Leistung der Performerinnen. Und darum geht es: Höchstleistung.

Ob Tanz, Theater oder Sport. Das Training hinter den Fassaden der Makellosigkeit wird ausgestellt. Wie viele Tanzschritte in den Proben gemacht worden sind, wie viele Knöchel knacksten, Fußballen bluteten, Nerven rissen; wie oft das eigene Ich vor dem Abgrund stand. ‚Tanz‘ oder verreck‘.

Applaudiert wird am Ende für den „Triumph des Willens“ über den Körper. Für elf Frauen, die sich nackt zeigen. Das hat auch etwas von der Body-Positivity einer Dove-Werbung. Und natürlich hat die Formulierung „Triumph des Willens“ einen faden Beigeschmack. In der Ankündigung heißt es, in der Performance „probt Calle den Gegenentwurf zu einer durchnormierten, kapitalistischen Gesellschaft.“ Aber wo bleibt der Gegenentwurf? Wir sehen ein affirmierendes Empowerment. Zu Kompositionen von Ravel, Beethoven und Strawinsky (alle Männer) und O-Tönen von Proben unter der Ägide von Leonard Bernstein und anderen Herren, schinden sich die Frauen selbst. Stücke werden geprobt, nicht Aufstände. Wenn an den Frauenkörper Erwartungen von Begehren bis Gebären gestellt werden, dann ist dieser „Versuch“ das beste Beispiel für das Einlösen der Erwartungen.

Diese Ambivalenz im Spannungsfeld von Emanzipation und Affirmation hat Siegfried Kracauer 1927 in „Ornament der Masse“ mit beinah unheimlicher Präzision beschrieben. Als Prototyp des entmenschlichten Körper-Ornaments dienen die Tiller-Girls, Frauen, die Revue im Gleichschritt tanzen: „Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegenwärtigen Gesamtsituation wider. Da das Prinzip des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht rein der Natur entstammt, muss es die natürlichen Organismen sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemeinschaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen.“ Kracauer schreibt, als sei er 90 Jahre später in Calles Performance anwesend: „Die Massenbewegung der Girls dagegen steht im Leeren, ein Liniensystem, das nichts Erotisches mehr meint, sondern allenfalls den Ort des Erotischen bezeichnet. So auch haben die lebendigen Sternbilder in den Stadions nicht die Bedeutung militärischer Evolutionen.“

Calle wagt die Kärrnerarbeit: Sie sucht die Errettung der Individualität in der Masse, als Gegenentwurf zur Masse selbst.

Zwei vor 13, bitte (Helene Emelia)

Wer glaubte, am Mittwochabend in der Halle G des Museumsquartiers ein gewöhnliches Tanztheater mit klassischem Aufführungscharakter zu sehen, wird sich schnell gewundert haben: In der Bühnenmitte haben sich elf Frauen nackt aufgestellt. Sie stehen dicht beieinander, zu einem Keil formiert, und führen eine denkbar einfache Choreografie vor: sie wippen, von einem Fuß auf den anderen.
Aus den Lautsprechern tönen Aufnahmen von Orchesterproben zu Maurice Ravels Bolero aus dem Jahr 1965. Dirigent Sergiu Celibidache unterbricht ständig und korrigiert das Swedish Radio Orchestra. Währenddessen halten die Frauen Inne, dehnen sich. Und bringen sich wieder in Position, bevor sie das Wippen im Dreivierteltakt wieder aufnehmen. Eine Probensituation im Aufführungsraum.

Mónica Calles Performance „Ensaio para uma Cartografia“ möchte die Schönheit des Scheiterns zeigen. Das teilt sie dem Publikum persönlich mit, als sie zu Beginn des Abends mit ihren Performerinnen – hier noch bekleidet – die Bühne betritt. Alle haben ein Streichinstrument in der Hand, auf welchem sie später noch mehrmals den akustisch kläglichen Versuch unternehmen werden, den 2. Satz aus Beethovens 7. Sinfonie zu spielen – ein Mancher möchte sich da die Ohren zuhalten. Doch der Dilettantismus wird gezielt eingesetzt. Genau darum geht es der portugiesischen Regisseurin und Schauspielerin nämlich: „Wir sind alle Musiker“, übersetzt eine Performerin aus dem Portugiesischen für das Publikum. Es bedarf für diesen Abend keiner Perfektion oder Virtuosität, im Gegenteil. Ist dieser Abend zwar nur ein „Versuch“, so folgt er doch einem genauen Plan. Das Scheitern soll betont werden, eine Geschichte des Irrtums, Wiederholens und Verbesserns erzählt werden, und zwar mit dem wohl persönlichsten Mittel: dem eigenen, nackten Körper.
Zweieinhalb Stunden lang werden diese Körper an ihre Grenzen gebracht. Und Calles Absicht, eine Verbindung mit dem Publikum herzustellen, scheint ihr in dieser Zeit oft zu gelingen. Ravel kehrt immer wieder zurück, und so meint man, nach minutenlangem Bolero-Wippen regelrecht körperlich mitzuleiden, was nicht nur am nervenzermürbenden Charakter dieses totgespielten Orchesterstücks liegt. Man sieht die Bewegungen jedes Muskels, man beobachtet, wie die Körper zu schwitzen beginnen und hört, wie den Performerinnen das Atmen immer schwerer fällt.
Dabei entstehen ästhetisch ansprechende Bilder. Beispielsweise im Spiel mit Licht- und Schattengassen, welche die Frauen rennend durchkreuzen und so ein pulsierendes Flackern entstehen lassen. Am Rande der Erschöpfung legen sie sich nach diesem Wettrennen auch noch Spitzenschuhe an, um sich nacheinander im Spotlight auszutesten, ihre Grenzen auszuloten und nicht nur alle Regeln des Spitzentanzes, sondern auch die Muster unserer durchnormierten Gesellschaft zu hinterfragen.
Ob es notwendig ist, dieser so intensiven, Grenzen hinterfragenden Performance, die sich über das rein Körperliche ausdrücken möchte, eine verbale, charmant improvisiert-gespielte Vorwegnahme der Intentionen des Abends voranzustellen, sei in Frage gestellt. Es tut der Wirkung dieser Performance jedoch keinen Abbruch. Wenn man an diesem Abend den Saal verlässt, dann mit dem Drang nach eigener körperlicher Bewegung – und mit Bolero im Ohr.

Das Aufmerksamkeitspotential der Repetition (C.K.)

„Ensaio para uma Cartografia“ startet mit einem starken Statement: ‚Schalten Sie doch bitte das Handy aus, denn wenn Sie den Drang verspüren, dieses hervor zu nehmen, dann haben wir etwas falsch gemacht.‘ Leider war der Rest der ausführlichen, einleitenden Erklärung von Mónica Calle eher schwer verständlich, denn ihre zur Übersetzerin auserkorene Mitspielerin hatte mit den, zugegebenermassen sowieso schwierigen Ausführungen zu kämpfen. Man darf sich fragen, ob es sich nicht gelohnt hätte, sich besser darauf vorzubereiten, wenn man denn schon auf eine Erklärung besteht.
Nachdem dann auch noch die Instrumente vorbereitet waren und man einen, der wegen arger Überspannung (wie mir eine Geigenspielerin versicherte) tatsächlich gerissenen Bogen ausgetauscht hatte, konnte es mit einiger Verspätung los gehen. Die Darstellerinnen entkleideten sich und formierten sich auf der Bühne.
Zu einer Aufnahme eines möglicherweise berühmten Dirigenten, der sein Orchester immer und immer wieder ähnliche Stellen proben ließ, wurde eine sehr repetitive Choreografie getanzt. Wann immer der Dirigent das Orchester unterbrochen hatte, um neue Anweisungen zu geben, unterbrachen auch die Darstellerinnen ihren Tanz, um dann wieder von vorne zu beginnen. Einem ähnlichen System folgte auch eine spätere Szene: Beeindruckend gerichtete Scheinwerfer teilten die Bühne parallel zur Bühnenkante in helle und dunkle Streifen, was bei den senkrecht dazu hin und her rennenden Darstellerinnen eine Art umgekehrten Stroboskopeffekt auslöste. Wiederum wurde gerannt, wenn das Orchester spielte und innegehalten, wenn der Dirigent Korrekturen anbrachte.
Zusammen mit kürzeren Einspielern aus Dokumentationen oder Interviews entstand das Gefühl, dass man die Macht des Dirigenten kritisieren und die Wichtigkeit und Wahrheit einer richtigen Vision der Spielweise anzuzweifeln wollte. Viel stärker war aber die Assoziation mit den Anstrengungen des Probeprozesses, eine Art Mitleid mit Performer*innen aller Art, die das über sich ergehen lassen müssen und eine Hochachtung davor, dass sie so etwas mitmachen wollen, um schlussendlich dem Publikum das perfekte Resultat präsentieren zu können.
Zwischen den Tanzeinlagen spielte die Gruppe zwei Stücke auf mehreren Streichinstrumenten. Ich verstehe nichts von Musik und vielleicht erschliesst sich mir deshalb der Sinn dieser zwei Einlagen nicht eindeutig. Grundsätzlich tönte das Gespielte schief. Ob es sich dabei um (bewusst oder nicht) schlecht gestimmte Instrumente oder fehlendes Können der Musikerinnen handelte, oder ob das ganze wahrscheinlich genau so hätte klingen sollen und tatsächlich Ausdruck von äußerster Begabung ist, auch unkonventionelle Stücke spielen zu können, weiß ich nicht.
Auf jeden Fall hat die Musik Fragen aufgeworfen. Zwar gelang es der Gruppe nicht, in mir Zweifel hervorzurufen, ob es nun eine Dirigentin oder einen Dirigenten als ordnenden Faktor im Orchester braucht. Stattdessen frage ich mich, wer denn bestimmt, welche zwei Töne nun zusammenpassen und welche nicht. Gibt es Töne, die als Naturgesetz harmonieren, oder ist diese Beurteilung von einer Art musikalischem Kanon bestimmt und deshalb erlernt? Leider gab das Stück darauf keine Antwort, wobei es sich dies ja auch nicht zum Ziel gesetzt hatte.
Im Mittelteil der Aufführungen darf eine Performerin nach der anderen eine individuelle Passage tanzen. Besonders die Wechsel, wenn eine Tänzerin von der Nächsten abgelöst wurde, schien mir sehr emotional aufgeladen. Die Tänze waren ebenfalls sehr beeindruckend, da man die Anstrengung und die Reaktionen auf Erfolg und Misserfolg sehr genau beobachten konnte.
Man kommt wohl nicht umhin, die Nacktheit zu thematisieren. Bisher hätte ich, ohne nachzudenken, das Statement von Andreas Kotte unterschrieben: ‚Nackt auf der Bühne nur dann, wenn es einen Sinn ergibt.‘ Vielleicht wäre ich sogar weiter gegangen und hätte die Bedingung auf eine künstlerische Notwendigkeit ausgedehnt. Doch seit heute weiß ich, so wie auch Professor Kotte von einer mittlerweile revidierten Meinung berichtete, dass es verschiedene Arten der Nacktheit gibt. Nacktheit kann einen Gestus haben. Während die nackten Männer in „Scarlet Letter“ zu sagen schienen: „Seht her, wir sind nackt, empört euch gefälligst“, war die Botschaft in „Ensaio“ eine andere. Für mich drängte sich das Wort Ehrlichkeit in den Vordergrund. Besonders während des Applaus kaufte man es den Darstellerinnen ab, dass das ihre Darstellungsform ist, die besser als jede andere für das Gezeigte funktioniert und dass sich alle nicht nur mit dem unbekleidet Spielen abgefunden haben, sondern diese Möglichkeit geschätzt und genutzt haben.
Nachdem zeitweise die Bass-Lautsprecher bis zur Belastungsgrenze ausgetestet wurden, endete das Stück mit einer fast endlosen und unterbrechungsfreien Wiederholung der Choreographie, die sich bereits durch das gesamte Stück zog. Trotzdem fühlte ich tatsächlich nie den Drang, mein Handy hervor zu nehmen, um zum Beispiel nach der Zeit zu sehen. Das Publikum zeigte sich dann auch begeistert mit stehenden Ovationen und auch ich verließ das Theater beeindruckt, aber auch mit dem Gefühl, eigentlich nicht viel gesehen zu haben und mit der Frage, was denn der Titel nun mit dem Stück zu tun hatte.

Die Schönheit der Unvollkommenheit (JW)

Ohne Vorankündigung beginnt es einfach – die Performerinnen schreiten mit ihren Streichinstrumenten in der Hand, von Hinten über die Bühne, nach Vorne. Aufgereiht vor dem Publikum beginnt Mónica Calle zu sprechen, eine der Performerinnen übersetzt ins Deutsche. Calle möchte von Anfang an klarstellen, worum es geht, ihr ist das wichtig, dass die Performerinnen alle mit Namen vorgestellt werden, und dass das Publikum Bescheid weiß. Während des Stücks sollen Anstrengungen und Fehler überwunden werden, um Transzendenz zu erreichen.
Endlich geht das Licht aus, doch noch viele Male während dieser Performance wird das Publikum erleuchtet sein, statt sich wie üblich in der anonymen Dunkelheit der Masse verstecken zu können.
Im Halbdunkel der Bühne stimmen die Darstellerinnen ihre Instrumente, legen sie anschließend an den Rand und kommen wieder in die Mitte, wo sie sich dem Publikum zugewandt entkleiden und in der Mitte gruppieren. Sie beginnen eine Choreografie zu tanzen, müssen jedoch auf Grund von Fehlern des eingespielten Orchesters immer wieder von vorne anfangen. Teilweise sieht man den Darstellerinnen an, dass sie genervt sind, man hört sie laut atmen, das Lächeln verrutscht, mit der Zeit kann der Arm nicht mehr ganz so hochgehalten werden.
Am Ende der sich immer wiederholenden Sequenz holen die Darstellerinnen, immer noch nackt, ihre Instrumente zu sich und versuchen sich gemeinsam als Orchester. Mehrere schiefe Töne sind dabei, doch das nimmt der Performance nicht ihre Schönheit, im Gegenteil: Das Publikum brennt darauf, zu sehen, dass sich die Darstellerinnen trotz aller Mühen nicht davon abhalten lassen weiterzumachen.
Sehr interessant ist auch der anschließende Lichtwechsel mit Seitenlicht, das die Bühne in helle und dunkle Streifen unterteilt. Die Performerinnen laufen von hinten nach vorne und wieder zurück und kreieren dabei selbst einen Stroboskop-Effekt. Anschließend springt das Stück zurück an den Anfang – die Darstellerinnen stehen wieder im Block in der Mitte und üben die gleiche Choreografie. Sie dauert diesmal länger, die Gesichter sind verbissen, das Publikum spürt die Anstrengung – es ist gnadenlos, sowohl für die ZuschauerInnen als auch für die Tänzerinnen. Im Anschluss tanzt jede Darstellerin einen Solopart auf Spitzenschuhen, hier kann das persönliche Probieren einer schweren Aufgabe gesehen werden, das Scheitern und Erreichen von etwas. Gewissermaßen werden unterschiedliche Stufen auf dem Weg zur Perfektion aufgezeigt, ohne diese Perfektion zu erreichen, aber gerade diese Nicht-Perfektion ist wunderschön anzusehen, wenn etwa eine Darstellerin es schafft sich einige Zeit auf den Spitzenschuhen zu halten und ein Lächeln über ihre Gesichtszüge huscht.
Das Stück endet quasi, wie es beginnt, diesmal stehen die Performerinnen in einer Reihe, tanzen dieselben Schritte und kommen dem erleuchteten Publikum dabei immer näher, bis der Bass immer stärker wird und plötzlich Stille eintritt.
Warum werden gerade „hohe Künste“ ausgewählt für ein Stück, dessen Darstellerinnen weder ausgebildete Tänzerinnen noch Musikerinnen sind? Weil insbesondere Ballett und klassische Musik viel Strenge und Disziplin brauchen, und es bei beiden schwierig ist, ein hohes Niveau zu erreichen – das heißt, es kann viel Unperfektes gezeigt werden, das gerade dadurch besticht.
Die Frage nach der Nacktheit stellt sich fast gar nicht, sie wird auf der Bühne nicht thematisiert und wirkt auch nie anrüchig oder unangenehm. Sie erlaubt es, die Individualität sichtbar zu machen und lässt die Darstellerinnen verletzlicher, unverfälschter und echter wirken. Und nur durch diese Ehrlichkeit, welche Calle selbst als so essentiell erachtet, gelingt es, eine Verbindung mit dem Publikum aufzubauen. Calle selbst spricht auch von der Schönheit der Unvollkommenheit, das bezieht sich nicht nur auf die Tanz- und Musizierfähigkeiten, sondern in ganz starkem Maße auch auf den Körper selbst, der schön ist, wie er ist.
Insofern kann diese Performance sehr stark als Plädoyer für das Imperfekte in einer Gesellschaft gesehen werden, die immer mehr dem Wahn nach Perfektion verfällt. Es ist beruhigend, einmal innehalten zu können und zu sehen, dass auch Scheitern wunderschön sein kann.

Frauenpower durch Individualität im Kollektiv (L.L.)

Das Publikum saß und wartete gespannt auf den Beginn von „Ensaio para uma Cartografia“. 11 Frauen und 3 Männer betraten die Bühne. Die Regisseurin Mónica Calle richtete zunächst einige Worte an die Zuschauenden. Diese Einführung war, so wie die restliche Performance, sehr persönlich. Alle Beteiligten wurden namentlich vorgestellt. Ebenso wurde der Rahmen, in dem Calle diese Inszenierung gedacht hat, kurz erläutert. Sie berichtete davon, dass sie bereits 2014 begonnen hatte, sich mit diesem Stück zu beschäftigen. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in einer Schaffenskrise. Sie habe nur durch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen wieder heraus gefunden. Diese anderen Menschen stehen bei „Ensaio para uma Cartografia“ mit ihr auf der Bühne. Das Gesagte wirkte natürlich und ehrlich. Überhaupt schien ihr der Abend ein großes Anliegen zu sein. Aber gleichzeitig war die Einführung wie eine vorweg genommene Entschuldigung für das Kommende. Mónica Calle verteidigte sich und ihre Mitglieder, noch bevor etwas passiert ist. Die klassische Musik sei nicht ihre Materie und dennoch würden sie sich damit befassen. Es sollten Anstrengungen überwunden werden, um darin Freiheit zu finden. Einerseits wurde damit eine Erwartungshaltung eingefordert, andererseits schaffte sie es, Vertrautheit aufzubauen. Das Licht im Publikum und auf der Bühne blieb in diesem Moment noch sehr hell. Damit wurde bereits eine Verbindung geschaffen, die sich Calle für die gesamte Performance zu den Anwesenden wünschte. Das Publikumslicht wurde nur selten ganz abgedunkelt, meist blieb gedimmtes Licht bestehen.

Nach der lockeren Ansprache verschwanden die Männer und die Frauen begannen, ihre mitgebrachten Streichinstrumente vorzubereiten. Durcheinander fingen sie an Töne zu produzieren. Immer wieder wurden Plätze getauscht und auch den anderen zugehört. Nach diesen zwei Vorspielen begann die Performance mehr Fahrt aufzunehmen. Die Frauen legten die Instrumente beiseite und ihre Kleidung ab. Nackt begaben sie sich in Aufstellung, um zu einer ‚Bolero‘-Aufnahme einen Tanzschritt immer wieder zu wiederholen. Mehrmals wurde die Musik in der Aufnahme von einem deutschen Mann unterbrochen. Die Frauen blieben stehen und fingen von vorne an, sobald die Musik erneut einsetzte. Der Tanzschritt und der Umgang mit den Instrumenten tauchten in der Inszenierung mehrmals auf. Der Bolero-Schritt wurde hin und wieder so oft wiederholt, dass es für die Zuschauenden als Reizung gesehen werden konnte. Dazwischen gab es zwei Szenen, die eine individualisierte Darstellungsweise zuließen. Einmal bei einem Lauf durch Lichtstreifen und, das andere Mal, bei den Soli der Frauen in Ballettschuhen.

Der Abend wollte Anstrengungen zeigen, die gemeinsam überwunden werden können. Die Anstrengungen waren klar zu sehen. Die Frauen kamen an ihre Grenzen. Sie schwitzen, atmeten schwerer, bekamen rote Farbe und verkrampfte Ausdrücke im Gesicht. Sie waren stark als Gruppe präsent. Man spürte, dass sie sich gemeinsam stark fühlten und aufeinander bauten. Gleichzeitig führten die Nacktheit und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper zu einer hohen Individualisierung. Jede Frau schien für sich stark zu sein, doch strahlten sie gemeinsam in der Gruppe. Auch der Wunsch nach Befreiung war an diesem Abend zu spüren. Der Perfektionismuswahn der heutigen Gesellschaft blieb schwach neben dieser Frauentruppe liegen.

Vollkommen/Unvollkommen (Joshua Mallek)

Nach knapp zweieinhalb Stunden endet die Musik und die schweißdurchtränkten Tänzerinnen wippen das letzte Mal hinauf und hinab. Als Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft zeigen uns Frauen ohne klassische Tanzausbildung die widerständige Schönheit und die Stärke der Unvollkommenheit – das suggeriert zumindest der Text im Programmheft. Der Abend lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir sehen den nackten Frauen immer und immer wieder beim Proben der gleichen Tanzbewegung zu und erleben dabei den schleichenden Erschöpfungsprozess durch die monotone, körperliche Arbeit. Schiefe Töne auf Streichinstrumenten offenbaren die Unvollkommenheit und die schiere Menschlichkeit dieser tapferen Frauen, die trotz ihrer Schwächen und Fehler den Mut haben, sich auf der Bühne zu präsentieren.
Der Abend wirft einige Fragen auf – die Wichtigste erscheint mir die Frage nach der gegenwärtigen Rolle der Theaterbühne und das damit verbundene Menschenbild. Das Stück als Absage gegen die etablierte Vorstellung, dass nur durch Talent und harte Arbeit ein lohnenswertes Produkt entstehen kann, widerspricht einer teleologischen Ideologie. Auch die Mittelmäßigkeit, die eigenen Grenzen und Fehler sollen auf der Bühne Platz finden. Feministisches Theater als Ort des Empowerment hätte die Möglichkeit, Normen zu durchbrechen – aber wieso will uns Mónica Calle ausgerechnet mit dieser monotonen Inszenierung die Mittelmäßigkeit schmackhaft machen?
Zu glauben, dass die Unvollkommenheit grundsätzlich keine Bühne bekäme, wäre weit gefehlt. Mit vielen großartige Schauspieler*innen, Musiker*innen und Künstler*innen, die schon mal in Kitsch abgleiten, den Text vergessen oder einen Ton nicht treffen, sympathisieren wir auf Kleinkünstler*innenbühnen, in Stadttheatern oder in Filmen abseits der großen Produktionshäuser. Diese Künstler*innen in ihrer Arbeit zu bekräftigen, ihre Zweifel und dem utopischen Wunsch nach sofortigen Perfektion zu beseitigen ist nur richtig – im Bewusstsein der eigenen Fehler sollten das Engagement und der Wunsch nach Größerem trotzdem weiter bestehen.

Ode an die Fehler (Caroline Mauser)

„Hinfallen. Aufstehen. Weitermachen.“ Wir alle kennen diese motivierenden Sprüche, die uns helfen, bei einem Fehltritt nicht komplett in Verzweiflung zu geraten. Doch warum einen Fehler als etwas Schreckliches ansehen? Warum perfekt und ohne Mangel sein? Genau dies möchte Mónica Calle in „Ensaio Para Uma Cartografia“ ansprechen.
Als die Zuschauer*innen den Raum betreten, präsentiert sich vor aller Augen zunächst einmal ein weites Nichts, eine leere Halle mit hinten schwarzen Stoffen. Doch schon nach einigen Minuten wird dieser Raum mit 11 Frauen gefüllt, jede mit einem Streichinstrument in der Hand. Ebenfalls mit in der Partie, Mónica Calle, die mithilfe einer der Performerinnen den heutigen Abend mit eigenen Worten einleiten möchte. Dies hier ist ein Stück, das durch eine persönliche und künstlerische Krise entstand. Keine perfekt eingeübte Performance, sondern etwas Unvollkommenes. Ein Teil eines Weges, der zeigt, dass das Leben einfacher ist, wenn man es mit anderen teilt. Sowohl die Leiden als auch die Freuden.
Nach Calles Ansprache wird das Licht gedimmt, die Performerinnen räumen ihre Streichinstrumente aus und legen ihre Ballettschuhe beiseite. Jede Bewegung wird genau wie in einer Probensituation ausgeführt. Eine spielt den ersten Ton an, Andere gehen darauf ein und versammeln sich zu einem Kreis. Es gibt kein Skript, jede Frau stimmt und spielt ihr Instrument wie es ihr am besten passt. Schließlich ertönt aus den Lautsprechern eine andere Orchesterprobe. Die 11 Performerinnen räumen daraufhin ihre Instrumente weg und ziehen anstatt Tutu ihr Evaskostüm an. Die nun nackten Frauen sind aber ohne jegliche sexuelle Aufladung anzusehen.
Denn hier soll ein Versuch der Freiheit entstehen, die präsentierten Fehler zu akzeptieren, sie zu umarmen, sie Willkommen zu heißen. Und dabei spielt auch das Nacktsein eine große Rolle. Das Stigma der gesellschaftlichen Schönheit wird damit aufgebrochen, die Unterschiede in und auf den Körpern selbst klar gezeigt und als das Wahre betrachtet. Durch diese Entblößung wird die Individualität stark präsent gemacht. Diese Offenheit mit dem Körper erzeugt ein Band des Vertrauens zum Publikum, sie zeigen ihre verletzbaren Seiten und die Zuseher*innen haben diese unverhüllten Individuen, ohne jegliches Urteil zu akzeptieren.
Es folgt eine einstudierte Tanzeinlage zu der Musik von Stravinsky, die aber von der männlichen Stimme vom Lautsprecher stets unterbrochen wird. Erneut muss angefangen werden, stets die gleiche Fußbewegung. Mit jedem neuen Scheitern wird eine neue Chance aufgemacht, es besser zu machen. Mit jeder neu gelungenen Probe wird bei einem selbst die Freude breit, ja, wenn sich nicht sogar eine Art Stolz sich erkennbar macht. Mit jedem neuen Takt und erneutem Anfangen, fieberte ich mit. Diese Verbindung zu den Performerinnen ist dermaßen heftig zu spüren gewesen, dass ich bei jedem Übertreffen des vorherig Unübertreffbaren mit lächeln musste. Ihre Anstrengungen habe ich innerlich zelebriert und wurde mit ihrem starken Selbstwertgefühl angesteckt. Und dennoch wurde die stetige Wiederholung nicht nur für die Performerinnen zur Qual, sondern auch für meine Geduld.
Als die Gruppenperformance sich zu einem Solo-Ballett-Auftritt entwickelt, wird die Individualität verstärkt. Nun tanzt jede Frau einzeln vor dem Publikum in den rosa Schuhen, jede Muskelbewegung wird deutlich und somit auch die einzigartige Präsenz der Tänzerinnen. Eine scheint geübt im Ballett zu sein, eine Andere schafft es mit Müh und Not, sich auf die Zehen zu begeben und die Dritte zeigt mit vollem Stolz ihren Rücken dem Publikum, der durch die Anspannung beim Tanzen umso imposanter wirkt. Und obwohl sie einzeln vorne stehen, sind sie doch stets in Beziehung zu- und miteinander. Denn das hat das Publikum mit den 11 Performerinnen vereint: Das gemeinsam erlebte Scheitern und Überkommen des Selbst. Jeder Fehlschritt machte noch mehr Mut, es beim nächsten Versuch besser zu machen, dieses Unvollkommene ins Rampenlicht zu stellen, als Gegenentwurf zu einer auswendig gelernten Profession.
Die Transzendenz, uns selbst zu übertreffen und mit jedem Neuanfang eine neue Chance zu gebären. Das einzeln Unvollständige macht das Ganze vollständig. Genau diese Aspekte machen „Ensaio Para Uma Cartografia“ so besonders. Ein Plädoyer an das Unvollkommene und ein Hoch auf den Mangel. Ein Prost auf das, was uns menschlich macht: Imperfektion und das stetige Übertreffen unser Selbst.

Der Weg ist das Ziel … (A.R.)

… und dass es sich bei „Ensaio para uma Cartografia“ um keine, bis ins letzte Detail fertig durchkomponierte Darbietung mit Perfektionsanspruch handelt, ahnt man bereits ab der ersten Minute. Gemeinsam mit ihrem Ensemble betritt die portugiesische Regisseurin und Schauspielerin Mónica Calle den vollkommen ungestalteten Bühnenraum. Sie richtet sich direkt an das Auditorium, um die Absichten, die sie mit ihrem Projekt verfolgt, zu erläutern – eine der Darstellerinnen übersetzt frei ins Deutsche: Es gehe Mónica Calle darum, eine Verbindung aufzubauen, innerhalb der Gruppe der Akteurinnen, zum Publikum und – egal, ob man nun gläubig ist, oder nicht – auch zu etwas Größerem, Göttlichem.
Ohne wirkliche Zäsur geht diese improvisiert wirkende Einführung dann in die eigentliche Aufführung über. Die elf Frauen (normalerweise wären es zwölf, eine fehlt leider krankheitsbedingt) beginnen die mitgebrachten Streichinstrumente zu stimmen, platzieren sie daraufhin jedoch seitlich des Raumes. Sie entkleiden und gruppieren sich in der Mitte der Spielfläche zu einer Dreiecksformation. Musik wird eingespielt und die Formation setzt zu gleichförmigen, fast militärisch starr wirkenden tänzerischen Bewegungen an. Doch bald bricht die Musik unvermittelt ab, die Tänzerinnen halten inne, nutzen die Pause zur kurzen Entspannung – und beginnen wieder von vorne. Mit stoischer Miene, eiserner Körperbeherrschung und geduldiger Ausdauer wird die monotone Bewegungsabfolge wieder und wieder in Angriff genommen. Offenbar beobachten wir ein Balletttraining – oder doch eine Orchesterprobe, wie es die Musikeinspielung samt den Kommentaren einer männlichen Stimme (Ballettlehrer oder Dirigent?) aus dem Off nahelegt?
Tatsächlich kommen in der nächsten Szene die Streichinstrumente zum Einsatz: Die musikalische Darbietung des Ensembles ist bemüht, aber nicht wirklich harmonisch, und auf jeden Fall alles andere als professionell. Tänzerische und instrumentale Einlagen wechseln einander in weiterer Folge ab. Die Mimik der Darstellerinnen während der Tanzszenen beginnt sich langsam zu verändern, die Anstrengung ist ihren teils gequält anmutenden Mienen abzulesen. Spätestens jetzt drängt sich mir unweigerlich der Gedanke an den Skandal in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper auf. Und tatsächlich kommen sogleich auch noch die Spitzenschuhe zum Einsatz. Eine nach der anderen versucht sich entschlossen und ehrgeizig im Spitzentanz, bis sie von der nächsten Amateur-Ballerina abgelöst – oder eher erlöst – wird.
Zum Finale führen die Frauen erneut die monotonen Tanzschritte aus – diesmal allerdings nicht in der Dreiecksformation, sondern aufgereiht in einer Linie. Die repetitive Musik wirkt inzwischen bedrohlich, fast wie ein Folterinstrument. Die Akteurinnen werfen dem Publikum eindringliche, zum Teil verzweifelte, flehentliche Blicke zu. Man möchte ihnen helfen, sie erlösen – vielleicht indem man selbst in das Tanzritual mit einsetzt? Dann plötzlich ein abruptes Ende der Musik – Stille – ein Moment der Unsicherheit im Auditorium: Kommt noch etwas? Schließlich bricht doch der befreiende und anerkennende Applaus für die erschöpften Darstellerinnen aus, die sichtlich bis an die Grenzen ihrer physischen Belastbarkeit gegangen sind.

Geteiltes Leid (G.J.)

Ich würde an dieser Stelle zunächst gerne fragen, wer die Beschreibung von „Ensaio para uma Cartografia“ im Programmheft der Wiener Festwochen verfasst hat? Dort ist die Rede von einem „Gegenentwurf zu einer durchnormierten, kapitalistischen Gesellschaft.“ Mir ist durchaus bewusst, dass in den Kreisen der Postmoderne gerne gegen den ach so bösen Kapitalismus gestichelt wird, im Kontext des Gesehenen hat so eine Phrase meiner Meinung nach aber nichts verloren und sollte demnach einfach ignoriert werden. Stattdessen wird das Publikum begrüßt von der Regisseurin und ihrer Gruppe (welche aufgrund eines Ausfalls leider aus einer Person weniger bestand) mit einer Ansprache, welche mehr schlecht als recht, aber durchaus verständlich, ins Deutsche übersetzt wird. Es kommt eine Rede zustande, und damit ein Eindruck, welcher mit wahrscheinlich keinem besseren Wort als „echt“ beschrieben werden kann. Gestartet werden soll der Versuch, aus einer religiösen Motivation heraus den Körper durch extreme Anstrengung an und über seine Grenzen zu bringen, um einen transzendenten Zustand zu erzielen. Dies solle auch auf das Publikum übergehen und zu einer Einheit der beiden Parteien führen. 
Nach einem kurzen Einstieg, welcher aus einem stimmungsvollen, wenn auch etwas unharmonischen Spiel, zusammengesetzt aus Violinen und Kontrabass besteht, folgt das Entkleiden der Akteurinnen. Das Unbehagen, welche diese hier empfinden, überträgt sich durch die akustische Begleitung nahtlos auf die ZuschauerInnen und wird vielleicht sogar noch verstärkt. So weit so gut. Die Nacktheit harmoniert hier mit dem religiösen Hintergrund. Mit dem Ziel, Gott so nahe wie möglich zu treten, als Grundgedanke, scheint das Entkleiden eine nachvollziehbare Aktion. Der menschliche Körper wurde von Gott nach dessen Vorbild geschaffen und befindet sich in der Nacktheit in seinem ursprünglich von Gott gewünschten, natürlichen Zustand. Erst als Adam und Eva die Anweisungen Gottes missachten, beginnen sie Kleidung zu tragen und sich von ihm, in einem affektiven Sinne zu entfernen. Das Anschließende jedoch scheint seine Intention zwar einzuhalten, jedoch lässt es die Frage aufkommen, ob diese in der erfahrenen Form auch so intendiert war. Was folgt sind knapp zwei Stunden an Tänzen, welche in ihrem physischen Anspruch genauso anstrengend wie monoton zu beobachten sind. Eine durchaus stimmungsvolle Beleuchtung lässt leider nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass die volle Bandbreite dieser „Choreografie“ nicht mehr als auf der Stelle hüpfen, über die Bühne rennen und etwas, das bestenfalls als amateurhaftes Ballett bezeichnet werden kann, beinhaltet (und ich weiß, dass hier Laien auftreten, das entschuldigt in meinen Augen jedoch nicht die starke Repetition). Ich sehe hier durchaus den Zusammenhang mit der Thematik. Die physische Anstrengung der Akteurinnen wird durch ihre angespannten, fast schon schmerzhaften Gesichter erkennbar. Auf der anderen Seite erreicht man als ZuseherIn einen ähnlichen Zustand, welcher zunächst durch die lange Dauer und extreme Monotonie dieser Darstellung hervorgerufen wird. Ob man das nun aus thematischer Sicht als einen Erfolg verbuchen möchte, kann durchaus behauptet werden. Ich werde jedoch nicht so tun, als ob ich dem zustimmen würde.