Faust trifft Dirty Dancing. Zwischen Reflexion und Immersion, eine interaktive Theatererfahrung

Ein Essay von Michelle Vlasic

Ein Krimi, der sich in einem Hotel in den 1960er-Jahren abspielt, Dirty Dancing (R.: Emile Ardolino, US 1987), Goethes Faust und Zeitreisen? Diese scheinbar inkohärenten Kunstformen trafen im Hotel Nesterval am Gellertplatz 7 in Wien Favoriten aufeinander. Dort wurde 2017 bis 2018 in Kooperation mit Nesterval und dem Brut Dirty Faust inszeniert: ein ›interaktives‹ Theaterstück, welches Handlungsstränge und Figurenkonstellationen zweier Klassiker, Goethes Faust und Dirty Dancing, zusammenführt und in Form eines Krimis verarbeitet. Durch die Beschaffenheit des Theaterstückes, die eine Interaktion und Bewegungsfreiheit innerhalb der Räume verspricht, wird ein Changieren zwischen reflektierender Distanzierung und immersiven Erfahrungen verstärkt.

Abb. 01: Brut Wien/Nesterval: Nesterval’s Dirty Faust © Alexandra Thompson.

Die Teilnehmer*innen werden schon beim Betreten des Gebäudes von als Hotelpagen verkleideten Akteur*innen begrüßt und nach der Abgabe des Gepäcks in Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe checkt in ein fiktives Zimmer ein. Die Zimmernummern repräsentieren die Nummern auf den Sitzbänken im Festsaal – eine alte Kirche –, in dem die Gruppen anschließend Platz nehmen. Vor dem Einlass in den Festsaal bekommt jedes Gruppenmitglied einen Flyer mit den Hausregeln, der Hotelhymne, sowie ein Diagramm ausgehändigt, auf dem die Beziehungen der Figuren zueinander vermerkt sind – es fehlen jedoch einige Namen. Dies soll dazu anregen, spielerisch mit den Akteur*innen zu interagieren und diese sowohl über ihre Namen als auch ihren Beziehungsstatus auszufragen. Innerhalb des Festsaales warten wir auf das Eintreffen der restlichen Hotelgäste, im Fall der konkreten Aufführung, am 11. Dezember 2017, dauert dies sogar 30 Minuten.

Die Teilnehmer*innen werden gebeten, während der Saisonabschlussfeier die Hotelhymne mitzusingen. »Join hands and hearts and voices. Voices, hearts and hands. At Nesterval’s the sorrows last long as the mountains stand«, so erklingt der Chor, bei dem sich die Teilnehmer*innen entscheiden können, mitzusingen oder nicht.

Abb. 02 https://www.youtube.com/watch?v=9kW3nMQpcDQ

Jedoch nicht lange, denn die Feierlichkeiten werden durch den plötzlichen Tod zweier Charaktere unterbrochen. Dieses Ereignis markiert den Beginn der nichtlinearen Handlung des Krimis. Nun sind wir gefragt herauszufinden, wie es zum Tod dieser zwei Charaktere kommen konnte. Dafür wird die Zeit drei Wochen zurückgedreht, suggeriert durch eine veränderte Musik, Geräuschkulisse sowie Lichtsituation. Die Handlung erhält weiterhin eine narrative Rahmung: Der ›Hoteldirektor‹/›Gott‹ und ›Frau Karl‹/›Mephisto‹ schließen eine Wette ab, die Frau Karl gewinnen lässt, wenn auch nur eine Person stirbt. Ähnlich wie in Goethes Faust wird somit ein Konflikt zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹inszeniert. Nun ändert sich die Dynamik im Raum. Wir, die Teilnehmer*innen, werden zwar eilig und mit Nachdruck von den Akteur*innen dazu animiert, ihnen zu folgen, dennoch wird uns eine große Entscheidungsfreiheit gegeben. Obwohl wir von den Akteur*innen in verschiedene Räume des Hotels geführt werden, können wir uns jederzeit dazu entscheiden, mit anderen Akteur*innen mitzugehen und deren Teil der Geschichte zu erleben. Außerdem darf Small-Talk mit den Charakteren geführt werden, man kann mit ihnen auf den fiktiven Partys tanzen, trinken oder Brettspiele spielen, um nur ein paar der Möglichkeiten zu nennen, die sich während der modifizierten Handlung von Faust und Dirty Dancing abspielen.

Während der Raumwechsel gibt es immer wieder Zeitsprünge, die durch eine veränderte Dynamik und Raumausstattung sowie durch audiovisuelle Effekte sichtbar werden. So ändern sich beispielsweise die Musik und Lichtverhältnisse, während die Akteur*innen, wie in einer ›Trance‹ gefangen, durch die Gänge gehen. Nach Ablauf der drei Wochen muss jede Gruppe mit ihrem Zimmerschlüssel auf den Ausgang des Krimis wetten, da wir wissen, wie es zum Tod der Charaktere kam und uns so die Chance gewährt wird, im nächsten Durchgang den Ablauf der Handlung zu beeinflussen. Die Zeit wird erneut vollständig auf den Anfang von vor drei Wochen zurückgedreht und die Handlung scheint, im Vergleich zum ersten Durchlauf, ohne großen Unterschied vonstatten zu gehen. Allerdings eröffnen sich dieses Mal ganz andere Interaktionsmöglichkeiten mit den Akteur*innen, und die Handlung wird durch demokratisch abgestimmte Entscheidungsfragen beeinflusst. So tritt beispielweise ein Schauspieler aus seiner Rolle heraus und adressiert das Publikum mit der Frage, wie sich seine Figur in der konkreten Situation verhalten soll. Per Handzeichen wird über das Schicksal der Figur abgestimmt. Ein Stimmungswechsel, der durch blau-violettes Licht in allen Räumen bemerkbar wird, trägt dazu bei, den Moment des Votens zu suggerieren. Zugleich verstummen Gespräche und Musik, und die Akteur*innen bleiben in ihren Bewegungen eingefroren stehen. Waren die eigenen Handlungsmöglichkeiten im ersten Durchgang recht eingeschränkt, werden diese nun geringfügig erweitert. Das Eingreifen in die Handlung ist dennoch nur begrenzt möglich, da lediglich eine konkrete Frage pro Figur gestellt wird.

Die Bestrebung des Stückes, ein in sich schlüssiges, immersives und interaktives Theaterstück zu inszenieren, existiert, allerdings sind vermehrt narrative und räumliche Brüche wahrnehmbar, die eine Distanzierung und somit eine Reflexion über das Dargebotene hervorrufen. Sowohl durch die Kostümierung der Akteur*innen als auch durch die Einrichtung der Spielstätte sollen die 1960er-Jahre angemutet werden, sodass das Gefühl entsteht, in eine andere ›Welt‹ einzutauchen. Dieser Eindruck wird zeitweise gestört, indem auf Elemente außerhalb der Handlung hingewiesen wird, und auch die moderne Kleidung der Teilnehmer*innen wirkt auf visueller Ebene als Störfaktor. Die zu Beginn des Stücks gegebene Anweisung des fiktiven Hoteldirektors, das Mobiltelefon abzuschalten, behindert weiterhin ein rasches Eintauchen in die fiktive Welt. Die ›Illusion‹, dass ich mich in den 1960er-Jahren befinde, wird auf diese Weise gestört. Ich nehme eine distanzierte, kritische Haltung ein und muss gleichzeitig die Kohärenz der gesamten Darstellung anzweifeln. Ähnlich verhält es sich mit der Aufgabe, den Beziehungsstatus der Charaktere auf dem Flyer auszufüllen. Für das Notieren lässt sich kaum ein geeigneter Platz finden. Diese Komplikationen lenken teilweise sogar von der dargebotenen Handlung ab. Die intendierte Interaktion soll zwar den spielerischen Zugang und damit die Einfühlung in das Geschehen verstärken, allerdings verursachen diese Arbeitsaufträge zeitweise einen gegenteiligen Effekt. Hinzu kommen die vielen Zeitsprünge, die ebenso einen Bruch auslösen, und durch die veränderte Dynamik, in der sich die Akteur*innen durch ihre ›Trance‹ von den Teilnehmer*innen abheben, wird eine Distanz zwischen den Parteien hervorgerufen, da man zu diesem Zeitpunkt nicht mit ihnen interagieren kann. Die fehlende Interaktion und das Gefühl, nicht involviert zu sein, sorgen dafür, dass ich häufig einen kritischen Blick ›von  Außen‹ einnehme.

Es lässt sich sagen, dass es sich bei Dirty Faust um eine Theatererfahrung der etwas anderen Art handelt. Die Interaktionen mit den Akteur*innen und die Bewegungsfreiheit schaffen ein Wechselspiel zwischen immersivem Einfühlen und reflexiver Distanznahme, bei dem die Teilnehmer*innen sich stets neu positionieren können. Wie die Morde passiert sind und ob diese verhindert werden konnten, kann ich leider nicht verraten, aber so viel sei gesagt, die Ereignisse des Abends sind mir noch lange im Kopf geblieben. Ebenso die Frage, was passiert wäre, wenn wir uns in den Entscheidungsfragen anders entschieden hätten.