Climax und die filmische Immersion als Trip

Ein Essay von Jakob Bierbaumer

Die Erfahrung des Films Climax (R.: Gaspar Noé, FR 2018) durfte ich erstmals im Dezember 2018 machen. Es handelt sich hierbei vorrangig um eine Erfahrung – mehr um einen Zustand, als um das Verfolgen einer linearen Geschichte. Erschienen im Jahr 2018 zeigt Climax von Gaspar Noé, wie eine Gruppe von Tänzer*innen in ihrem Proberaum feiert. Jemand mischt LSD in den Sangria, den alle trinken, es kommt zu Panik und die Situation eskaliert langsam. Ich kann mich an keinen Film erinnern, der mich in einen derartig immersiven Zustand versetzt hat wie Climax. Oft habe ich mich seither gefragt, wodurch dieses starke immersive Potenzial bei mir erzeugt wurde. Wie schafft es ein Film, dass das Publikum dazu angeregt wird, sich vollkommen den Bildern und dem Klang hinzugeben?

Natürlich ist die Erfahrung eines Films immer subjektiv und der Grad an Immersion, also der »illusionistische Eintritt in eine simulierte Welt«, [1] ist es ebenso. Auf den ersten Blick scheint Climax diese immersive Wirkung mit allen filmischen Mitteln herbeiführen zu wollen, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es deutlich komplexer ist. Der Film besteht aus mehreren sehr langen Takes ohne Schnitt. Der längste davon ist 42 Minuten lang und füllt beinahe die gesamte zweite Hälfte des Films aus. Der Film passt sich damit der Zeitschreibung des Publikums an, wodurch die Zeit realitätsnäher wahrgenommen und die Erfahrung intensiviert werden kann. Die Musik in Climax spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, es handelt sich schließlich um eine Party. Größtenteils elektronische Musik, immer diegetisch, durchzieht den Film und es gibt selten Momente, in denen die Musik nicht vollkommen einnehmend ist. Der Kinosaal könnte ebenso gut ein Club sein. So beginnt der Film auch mit einer minutenlangen Tanzchoreografie, die den einzigen Teil des Films darstellt, der vorher geplant war. Den Rest des Films hat der Regisseur Gaspar Noé zusammen mit dem Cast am Set improvisiert. Es gab keine Dialoge im Drehbuch und Noé änderte die Handlung laufend während des Drehs.

Die Kamera in Climax folgt einzelnen Figuren und ist ständig in Bewegung. Es gibt fast keine ruhigen Bilder. Lange Takes gepaart mit elektronischer Tanzmusik und einer ständig bewegten Kamera, die genauso agil scheint, wie die Tänzer*innen im Film. Dennoch verhält es sich mit der Identifikation nicht so einfach wie gedacht. Es würde naheliegen, den Drogentrip der Figuren so zu zeigen, wie sie ihn wahrnehmen, um eine Identifikation mit ihnen und so eine erhöhte Immersion zu ermöglichen. Der Film tut jedoch genau das Gegenteil. Es gibt keine visuellen Effekte oder subjektiven Kameraeinstellungen, keine Farben oder psychedelische Erscheinungen, die suggerieren, dass wir gerade das sehen, was die Figuren wahrnehmen. Statt gezeigt zu bekommen, wie die Figuren durch die Drogen in ihrer Wahrnehmung beeinflusst werden, sehen wir nur, wie sie sich äußerlich verhalten. Dennoch zielt die Ästhetik des Films nicht auf Realitätsnachahmung ab, sondern betont durch die grellen Farben und die dominante Musik gerade die Künstlichkeit des Gezeigten. Es lässt sich dennoch eine Veränderung der Ästhetik im Laufe des Films feststellen. Zu Beginn sind die Räume noch heller ausgeleuchtet und die Konturen klarer erkennbar und die Figuren interagieren teilweise in ruhigen Bildern miteinander. Außerdem gibt es in der ersten Hälfte des Films noch einige Schnitte, in der zweiten keine. Je mehr die Drogen wirken, desto dunkler und neonfarbiger werden die Bilder und zu der Tanzmusik mischen sich Schreie.

Der Film kreiert so einen Sog, der aber nicht mit der psychedelischen Erfahrung der Protagonist*innen zusammenfällt. Es stellt sich hier ein ambivalentes Verhältnis zwischen der Position des zusehenden Subjekts, den Figuren im Film und dem Film selbst ein. Ganz gezielt versucht der Film, unterschiedliche Identifikationen und Positionen des wahrnehmenden Subjekts zu eröffnen. Es wird einerseits durch die besprochenen Mittel ein immersives Potenzial erzeugt und andererseits wird dieses oft bewusst gebrochen. So laufen die credits am Anfang und in der Mitte des Films durchs Bild, eine Verfremdung des Mediums Spielfilm, wie wir es gewohnt sind. [2] Außerdem werden Aussagen in Schriftform während des Films eingeblendet, die eigentlich zum philosophischen Nachdenken anregen müssten; so beispielsweise: »Leben ist eine kollektive Unmöglichkeit« oder »Sterben ist eine außergewöhnliche Erfahrung«. Dennoch blieb bei mir die Reflexion über diese Aussagen in der immersiven Wirkung des Films gefangen. Es stellte sich zwar ein Wechselspiel zwischen Immersion und Reflexion ein, wie es Werner Wolf in Immersion and Distance beschreibt, jedoch immernoch im Rahmen der Immersion in den Film. Wolf behauptet, dass eine immersive Wirkung nie vollkommen erreicht werden kann, sondern immer auch ein Grad an Reflexion, also ein Bewusstsein über die Rezeptionssituation und die Künstlichkeit des Erlebten, gegeben ist. Immersion ohne Reflexion ist demnach gar nicht möglich und die beiden Rezeptionsarten stehen immer in einem Spannungsverhältnis. Die Position des Subjekts in diesem Verhältnis kann sehr unterschiedlich sein und wird durch das Medium konstituiert. [3]

Meine eigene Rezeptionserfahrung lag genau in diesem Spannungsfeld, aber eindeutig mehr der Immersion zugewandt. Zwar reflektierte ich über die Schrifteinblendungen oder über Dialoge im Film, jedoch nicht über meine eigene Rezeptionssituation. Dass mich der Film damals so sehr eingenommen und beinahe keinen Grad an reflexivem Potenzial im Moment des Sehens bei mir ausgelöst hat, fasziniert mich bis heute. Dennoch war das Ausmaß der Reflexion nach dem Kinobesuch größer als bei den meisten Filmen. Obwohl ich währenddessen im Wechselspiel zwischen Immersion und Reflexion klar in Richtung Immersion geneigt war, regte der Film bei mir einen Reflexionsprozess an, der lange dauerte. Ich musste oft über meine Rezeptionssituation nachdenken und darüber, wie der Film seine immersive Wirkung bei mir erzeugt hat.

Dass mir der Film so lange nicht aus dem Kopf ging, liegt sicherlich auch daran, dass Climax ein höchst ungewöhnlicher Film ist. Er funktioniert weniger als klassischer Spielfilm mit einer linearen Narration, sondern könnte auch als Installation im Kinosaal gelesen werden, da es in erster Linie nicht um eine Geschichte geht, sondern um die Stimulierung der Sinne durch die laute Musik und die agile Kamera. Diese Mischung aus Film und Installation zielt darauf ab, das Publikum einerseits einer größtmöglichen Immersion auszusetzen und anderseits die Immersion durch filmische Mittel zu brechen. Dadurch entsteht ein Film, der das Wechselverhältnis von Immersion und Reflexion verhandelt und das Publikum ganz gezielt als Subjekt adressiert, das zwischen diesen beiden Wahrnehmungsformen schwankt und sich nie dem einen oder anderen vollkommen hingeben kann.

Meine eigene Erfahrung mit dem Film, den ich als sehr immersiv erlebt habe, ist demnach auch auf die reflexiven Potenziale von Climax zurückzuführen. Durch die Schrifteinblendungen, das ambivalente Spiel mit Subjekt und Identifikation und dem Auseinanderfallen zwischen dem Drogentrip der Figuren und dem Trip, den das Publikum zu sehen bekommt, wurde die immersive Wirkung bei mir sogar verstärkt, anstatt sie zu mindern. Climax hat dabei das Ziel, das Publikum in die Handlung hineinzuziehen, aber verwehrt dies zugleich. Die Immersion findet hierbei nicht wegen einer interessanten und spannenden Geschichte statt, sondern durch rein filmische Mittel, die der Film immer wieder gegeneinander ausspielt und so eine ambivalente Wirkung zwischen Immersion und Reflexion beim Publikum auslöst.

Direktnachweise

[1] Schweinitz, »Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität«, S. 138.

[2] Vgl. Brecht, Schriften zum Theater, S. 174f.

[3] Vgl. Wolf, »Aesthetic Illusion«, S. 15ff.

Quellenverzeichnis

Brecht, Bertolt, Schriften zum Theater 3. 1933-1947. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 174-197.

Schweinitz, Jörg, »Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität. Ein Mediengründungsmythos zwischen Kino und Computerspiel«, in: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel, hrsg. v. Neitzel, Britta/Nohr, Rolf F., Marburg: Schüren 2006, S. 136-153.

Wolf, Werner, »Aesthetic Illusion«, in: Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media, hrsg. v. Dems./Bernhart, Walter/Mahler, Andreas. Amsterdam/New York: Rodopi 2013, S. 1-66.