Eintauchen und nochmal Eintauchen – ein unerwartet immersives Konzert

Ein Essay von Julia Christina Widner

Am 1. Februar 2019 besuchte ich ein Konzert des Wiener Duos Velvet Tree und der japanischen Band Die Milch im Down Under in Wien. Beide Bands entstanden in der weltweit aktiven und gut vernetzten Szene der Gothic Lolitas . Diese Moderichtung zeichnet sich vor allem durch ein hyperfeminines Aussehen aus sowie eine (oft, aber nicht immer) an die Rokoko-Ära angelehnte Ästhetik. Petticoats, Rüschen und Spitzen gehören zur Grundausstattung einer jeden Lolita [1]. Obwohl beide Bands ca. gleich lang gespielt hatten möchte ich mich auf Grund der Eignung zum Thema der Lehrveranstaltung auf den Auftritt der zweiten Band namens Die Milch konzentrieren. Dieses Trio mischt Elemente der klassischen Musik mit Elektropop und besteht aus Will und Robin an der Geige sowie Pianistin und Sängerin Coco.   

Es mag zwar stimmen, dass enge Räume die ein oder andere Person mitunter klaustrophobisch werden lassen können, jedoch hat ein Raum mit beschränkter Fläche, wie der Keller des Down Under, auf jeden Fall mehr Potential, immersiv auf mich zu wirken, wenn man ihn z.B. entsprechend schmückt. Das kann etwa durch bestimmte Gegenstände geschehen, die an verschiedenen Stellen befestigt werden und gezielt eine besondere Art von Stimmung auslösen sollen. Dies war an jenem Abend der Fall. An der Wand hingen künstliche Rosen und Efeu und an der Bar und diversen Abstellflächen waren niedlich verpackte Bonbons verteilt. Wenn auch das Down Under mit seiner Backstein-Ästhetik nicht unbedingt nach Lolita schreit waren die einzelnen Elemente sehr gut auf die von der Band beabsichtigte Atmosphäre abgestimmt. Generell ist mir, nebenbei bemerkt, aufgefallen, dass Open Air-Konzerte eventuell weniger immersiv wirken, als Konzerte in geschlossenen Räumen, da jeder Versuch, einen vorübergehenden fantastischen Kosmos zu bilden, sich meines Erachtens in der schieren Weite des beschallten Raumes verliert. 

Zur Performance der Band gehört wie erwähnt nicht nur das Spielen von Instrumenten sondern gleichermaßen das Kleiden in Lolita -Kleidung und einfache Tänze bzw. Körper-bewegungen, die gemeinsam einstudiert worden sind. Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Zuerst bemerkte es niemand, da das Licht zufälligerweise exakt mit dem letzten Beat des Drumcomputers ausging, aber es war tatsächlich mitten im Konzert der Strom ausgefallen. 

Da das Team des Down Under wegen, wie sich herausstellte, hartnäckiger technischer Probleme im Haus die Möglichkeit eines Stromausfalls während des Konzerts nicht ausschloss, hatten sie schnell Kerzen parat. Kaum waren diese aufgestellt und angezündet wurde die Stimmung intimer. Jene Personen, die sich zuvor noch etwas zurückhaltend, introvertiert und steif gaben lachten auf einmal, schauten sich um und begannen zu tratschen. Prompt zückte Violinist Will seine Geige und improvisierte. Plötzlich waren die Elektropop-Beats des Drum-Computers verschwunden und nur der unverstärkte Klang der Violine hörbar. Anstelle eines Nickens zum Rhythmus des Beats waren auf einmal leicht hin- und her schaukelnde Körper mit geschlossenen Augen zu sehen.

Dieser Abend zeigte mir vor allem, dass nicht alles verloren ist, nur weil einmal etwas nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Wichtig ist eher, dass das Konzept eine*r Künstler*in bzw. eines Künstler*innen-Kollektivs und der Wille zur Umsetzung so stark ist, dass selbst eine vermeintliche Störung der Vorführung das immersive Erlebnis nicht wahrhaftig stören kann. Im Falle der beschriebenen Vorführung hat der Stromausfall tatsächlich nicht nur nicht gestört sondern für mich einerseits eine Verbesserung der Vorführung sowie eine stärkere Immersion verursacht. Rückblickend bin ich überrascht realisiert zu haben, aus welchem Grund mir dieses Konzert in Erinnerung geblieben ist.

Die Lolita -Mode wird oft als „zu überladen“ und eskapistisch und somit als zu künstlich betrachtet. Auch ich hatte damals teilweise diese Auffassung, da ich zwar Fotos von Lolitas gesehen hatte, jedoch nie aktiver Teil der (überschaubaren) Wiener Lolita-Szene war. Entgegen meiner Erwartung war vor allem während des Stromausfalls von Künstlichkeit nichts mehr bemerkbar. Will´s, und später Robin´s, Auftritte wirkten so spontan, dass kein Bruch in der Erzählung ihrer (fantastischen) Geschichten wahrnehmbar war. Die Spontanität der beiden zeigte für mich vor allem, dass das Trio keinesfalls nur einfach auf der Bühne gerne auffällige Mode trägt, sondern dass es für sie ein Lebensstil und eine Lebenseinstellung ist. Zumindest gelang es allen dreien, mich (trotz eines vermeintlichen Hindernisses) mittels verschiedener Kunstformen wie Mode, Musik und Tanz in ihre Welt hineinzuziehen. Ich fühlte mich nicht mehr bloß wie ein Gast der Fantasiewelt des Trios, sondern als wäre ich im Wohnzimmer dieser Welt angelangt. Ich glaube, alle waren etwas wehmütig, als die Sicherungen wieder ansprangen, die immersive Kraft nachgelassen hat, alle Instrumente wieder verstärkt und die Bandmitglieder gut beleuchtet waren.


[1] Über den Namen ihrer Mode sind die wenigsten Lolita glücklich, wodurch viele versuchen, der Mode einen anderen Namen zu geben. Dies gelang bisher jedoch kaum. Ein Zusammenhang zu Wladimir Nabokow´s Roman wird von den allermeisten Lolita jedoch entschlossen abgestritten.