Das Totale Tanztheater. Immersive und reflexive Eigenschaften einer tänzerischen Virtual Reality-Installation

Ein Essay von Rebecca Steinbauer

Vom 17. bis zum 24. Januar 2019 konnte man in den Räumlichkeiten der Akademie der Künste in Berlin-Wedding die Ausstellung 100 Jahre Bauhaus besuchen. Besondere Aufmerksamkeit der Wanderausstellung galt der VR-Installation Das Totale Tanz Theater. Die Installation ermöglicht es bis zu vier Personen gleichzeitig an der Performance im virtuellen Raum teilzunehmen. Mit den VR-Brillen und innerhalb eines semitransparenten gaze rings, einer Art halbdurchsichtigen Leinwand, begegnet man in der virtuell konstruierten Welt einer Vielzahl an tanzenden Wesen, mit denen man sich innerhalb der zehnminütigen Performance auf verschiedenen sich in die Höhe bewegenden Plattformen befindet. Gegen Ende der Performance schwebt man auf einer Höhe von virtuellen 310 Metern. Die Choreografie der tanzenden Wesen wurde von Richard Siegal, einem amerikanischen Tänzer und Choreografen, erarbeitet und zusammen mit der Berliner Interactive Media Foundation GmbH technologisch umgesetzt.

Das Totale Tanz Theater spielt mit dieser Vorstellung: Als Teilnehmer*in befindet man sich zu Beginn auf einer Plattform, beziehungsweise Bühne, mit den tanzenden Wesen und den drei weiteren Teilnehmer*innen zugleich. Während der choreografischen Höhenfahrt wechselt man gegen Ende der Installation auf eine eigene kleine Plattform, mit welcher man wechselhaft höher sowie tiefer das tanzende Geschehen des virtuellen Raums wahrnimmt. Aus der zu Beginn großen Bühnenebene werden mehrere individuelle kleine, sich bewegende Plattformen. Somit lehnt sich die VR-Installation an das Prinzip von Walter Gropius und Erwin Piscator an.

Die Idee von der VR-Installation beruht auf dem Konzept des Totaltheaters, welches von Walter Gropius und Erwin Piscator entwickelt wurde. Diese beschreiben ihr Prinzip folgendermaßen:

Mein Totaltheater ermöglicht es dem jeweiligen Spielleiter, mit Hilfe sinnreicher technischer Einrichtungen, innerhalb derselben Vorstellung auf der Tiefenbühne oder auf dem Proszenium oder auf der Rundarena, beziehungsweise auf mehreren dieser Bühnen zugleich zu spielen. [1]

Das Totale Tanz Theater ist innerhalb der virtuellen Welt ebenfalls wie eine Rundarena aufgebaut, auf der mehrere Bühnen im weitesten Sinne gleichzeitig bespielt werden. Die unterschiedlichen Ebenen und die tanzenden Wesen, die sich auf den Plattformen bewegen, bilden die Parallele zu dem Prinzip des Totaltheaters. Das Ziel der Installation ist es, in den Teilnehmer*innen ein immersives Erlebnis hervorzurufen. Pia Kleine Wieskamp schreibt in ihrem Artikel »Was bedeutet Immersion in der virtuellen Welt?«, dass im Gegensatz zur filmischen meist passiven Immersion die virtuelle durch interaktive Handlung verstärkt wird. [2] Das besondere an der VR-Installation der Bauhaus-Wanderausstellung ist, dass man den anderen Teilnehmer*innen in der virtuellen Welt physisch begegnet. Man kann aufeinander zugehen und in das Gesicht der realen Person sehen und sich sogar einander in die Augen sehen. Denn die drei weiteren Teilnehmer*innen, die in diesem semitransparenten gaze ring neben einem stehen und an der Performance teilnehmen, werden sozusagen visuell in die Performance übertragen. Dieser technologische Faktor stärkt den immersiven Faktor des Totalen Tanz Theaters enorm. Als Teilnehmer*in kann man auch andere Subjekte der realen Welt in der virtuellen wahrnehmen und, wenn auch in abgeschwächter Form da man nicht direkt mit ihnen interagieren kann, mit ihnen in Kontakt treten. Erkki Huhtamo befasst sich in seinem Text »Unterwegs in der Kapsel. Simulatoren und das Bedürfnis nach totaler Immersion« aus dem Jahr 2008 mit immersiven Erlebnissen und beschreibt diese anhand der Metapher einer Kapsel. Für ihn begründet eine immersive Erfahrung, dass man sich außerhalb des eigenen Körpers befindet und so den Körper und Geist erweitert. [3] Doch gerade die technologische Komponente, dass man visuell mit seinem eigenen Körper an der Installation teilnimmt, da man zum Beispiel die Gesichter der anderen drei Teilnehmer*innen auf der Bühne sieht und somit weiß, dass man von ihnen auch gesehen wird, stärkt das immersive Erlebnis.

Es gibt jedoch auch Faktoren, die dazu beitragen, dass man sich als Subjekt von der Installation distanziert und eine reflexive Haltung einnimmt. Die virtuellen physischen Grenzen der Installation sind auf den ersten Blick nicht eindeutig erkennbar. Die tanzenden Wesen reihen sich zu Beginn der Performance am Rand der runden Plattform auf und markieren somit die maximalen Bewegungspunkte, denen man sich als Subjekt annähern kann. Darüber hinaus kann man zwar sehen, sich aber nicht bewegen. Das Bild stockt zu dem Zeitpunkt leicht, an dem man versucht, an den tanzenden Wesen vorbeizugehen. Es ist, als laufe man gegen eine Wand. Dies ist einer der wenigen reflexiven Momente innerhalb der Installation. Auch die VR-Brillen distanzieren die Subjekte in einigen Momenten von der Performance. So mag zum einen die Höhenfahrt die Stärke der Installation sein, so wird darin zum anderen auch eine Schwäche der technologischen Umsetzung sichtbar. Schleichend, doch bereits zu Beginn befinden sich die Teilnehmer*innen in stetiger Bewegung nach oben. Gegen Ende der Choreografie teilt sich die große Plattform in individuelle kleine Plattformen auf, gerade mal so groß, dass man darauf stehen kann. Jede einzelne Person schwingt nun durch den Raum auf einer eigenen kleinen Bühne, die man nicht verlassen kann. Es ist möglich, über die kleine Plattform in die Tiefe zu sehen. Das Gefühl, sich auf schwindelerregender Höhe zu befinden, wird real, wodurch sich die immersive Erfahrung der Installation auch definiert.

Die VR-Installation mit ihrer Grundidee des Totaltheaters wird durch die technologische Entwicklung zu einem intensiven immersiven Erlebnis. Durch den Faktor, dass die Teilnehmer*innen mit ihrem realen Aussehen Teil der zehnminütigen Aktivität sind, wird das Erlebnis verstärkt, die virtuelle Realität wird mehr zur eigenen Realität.

Direktnachweise

[1] Wilkinson, Atlas der nie gebauten Bauwerke, S. 211.

[2] Klein Wieskamp, »Was bedeutet Immersion in der virtuellen Welt?«.

[3] Huhtamo, »Unterwegs in der Kapsel«, S. 45.

Quellenverzeichnis

Wilkinson, Philip, Atlas der nie gebauten Bauwerke. Eine Geschichte großer Visionen, dtv 1 Verlagsgesellschaft: München, 2018.


Klein Wieskamp, Pia, »Was bedeutet Immersion in der virtuellen Welt?«, in: Baukasten-Storytelling & Content 2 Marketing, 07.03.2017, https://story-baukasten.de/was-bedeutet-immersion-in-der-virtuellen-realitaet/#, 15.05.2020.


Huhtamo, Erkki, »Unterwegs in der Kapsel. Simulatoren und das Bedürfnis nach totaler Immersion«, in: Montage AV, 17/2/2008, S. 41-68.