Entlarvung des Publikums in den Todesspielen

Filmkritik zu den Filmen Funny Games (1977) und dem US-Remake Funny Games (2007)

von Anja Mollnhuber

Was wollen wir im Kino, in Filmen sehen?

Die Diagonale 2022 in Graz geht mit den beiden Filmen Funny Games (1977) und dessen US-Remake Funny Games (2007), beide von Michael Haneke, in die letzte Runde. Sie werden anlässlich von Michael Hanekes 80. Geburtstag im Schubertkino gespielt. Zwei als Psychothriller gekennzeichnete Werke, die zusammen mit einer Spieldauer von über drei Stunden einen halben Nachmittag füllen.1 Sehenswert?

Die kleine Ansprache der Moderatorin, die das anwesende Publikum in die nächsten Stunden einleitet, wird vielleicht jene irritieren, denen der Name Michael Haneke bisher nichts gesagt hat. So manch eine*r könnte auch in Zweifel geraten, ob die Entscheidung zu diesem Kinobesuch eine gute war. Ziel der Rede, so scheint es, ist nicht nur die Vermittlung von Hintergrundinformationen zu den Filmen, sondern auch, die Zuschauer*innen auf das Kommende vorzubereiten bzw. davor zu warnen. Besonders deutlich geht die Moderatorin dabei auf die gespaltenen Reaktionen des Publikums in der Vergangenheit ein. Zu diesen zählten unter anderem Schock und Verstörung, manche erlebten das Filmmaterial laut ihr „wie eine Vergewaltigung“. Michael Hanekes Ziel sei es, so erklärt die Dame noch, der Glorifizierung von Gewalt in den Filmen entgegenzuwirken, indem er diese mit extremer Gewalt in seinen Filmen bekämpft.

Diese Einleitung führt dazu, dass mehrere Personen bereits zu Beginn des Films, aber auch unterdessen den Saal verlassen – eine ungewöhnliche Situation, denn schließlich wurde der Film trotz allem als Psychothriller ausgeschrieben und war dementsprechend an Menschen adressiert, die dieses Genre kennen. Der Rest des Publikums hat wohl trotz vorheriger Warnung beschlossen, abzuwarten und erst einmal zu schauen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der erste Film beginnt mit der Anreise einer Familie zu ihrem Ferienwohnhaus am See in schöner Natur. Im Auto sitzen Mutter Anna, Vater Georg und Sohn Schorschi im Kindesalter sowie ihr Hund. Auf dem Weg fallen ihnen zwei junge Männer auf, die neu in der der Familie vertrauten Nachbarschaft sind. Kaum angekommen, bekommt die Familie bereits Besuch. Einer der jungen Männer, Paul, möchte Eier für die Nachbarin holen und sein Freund, Peter, nur kurz den Golfschläger der Familie testen. Ein Vorwand, der den beiden Zutritt zum Haus verschafft und ihnen gewährt, ihre sadistisch-tödlichen Spiele an der Familie auszulassen. Jegliche Versuche der Gegenwehr und der Flucht scheitern, bis auch das letzte Familienmitglied den Männern zum Opfer fällt. Doch Paul und Peter haben schon Pläne, mit wem sie als Nächstes spielen wollen…

30 Jahre liegen zwischen den gleichnamigen Filmen – eine lange Zeit, doch verändert hat sich nicht so viel. Einstellung für Einstellung wurde identisch nachgestellt, das Setting so ähnlich wie möglich nachrekonstruiert – von der Kleidung bis zur Küchenausstattung. Auch inhaltlich und sprachlich fallen kaum Differenzen auf. Was Funny Games (1977) von Funny Games (2007) hauptsächlich unterscheidet, ist die Besetzung.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler leisten gute Arbeit in beiden Filmen, die schockieren wollen. Gefühle, wie die im Laufe der Filme sich immer mehr ausbreitende Verzweiflung werden meist sehr authentisch vermittelt und auch die Rollen der Sadisten mit ihrer Kälte, die von Zynismus und Häme durchtränkt ist, wurden hervorragend besetzt. Im österreichischen Film von 1977 spielen Susanne Lothar (Anna), Ulrich Mühe (Georg), Arno Frisch (Paul), Frank Giering (Peter) und Stefan Clapczynsk (Schorschi).2 Beim US-Remake sind die Hauptrollen an Naomi Watts (Anna), Tim Roth (George), Michael Pitt (Paul), Brady Corbet (Peter) und Devon Gearhart (Georgie) verteilt.3

Warum gehen wir ins Kino, um uns mit Horrorfilmen und Psychothrillern zu konfrontieren? Was bewegt uns zu diesen Themen, worin liegt der Reiz?

Fernab der Wirklichkeit

Auffallend im Plot sind mehrere Situationen, die unglaubwürdig erscheinen. Dies beginnt bereits damit, als Anna von Peter mit dem Spiel „Kälter-Wärmer“ zu ihrem ermordeten Hund geführt wird. Zwar weiß Anna, dass Paul mit ihrer Familie im Haus auf sie wartet, jedoch unternimmt sie keinen einzigen Versuch, sich gegen Peter zu wehren, obwohl er in einigem Abstand hinter ihr geht. Selbst als die Nachbarn vorbeischauen, drei erwachsene Personen, bekommen diese von ihr keine Anzeichen, dass Anna und ihre Familie in Gefahr sind. Stattdessen spielt die Mutter brav bei Peters Geplänkel mit. Diese Passivität auf Seiten der Familie zieht sich durch die gesamte Handlung und erscheint als fragwürdig. Zwar werden Versuche unternommen, dem Treiben der Jungs ein Ende zu setzen, jedoch nur mit mäßiger Anstrengung. Begründet werden könnte es vielleicht mit dem Schock, von zwei Männern in weißen Handschuhen, über deren Sinnlosigkeit sich zu Beginn niemand wundert, wie aus dem Nichts grundlos gefoltert zu werden. Dabei bestehen die Sadisten auf übertriebene Höflichkeit und verlangen, dass sich alle an die grauenvollen Spielregeln ihrer „Funny Games“ halten. Die Achtung auf diese überspitzten Umgangsformen angesichts der Taten der zwei Männer erscheint grotesk, jedoch passt sie perfekt in das Bild eines Psychopathen ohne Empathie, der ein Faible für Golfbälle hat.

Doch nicht alles entzieht sich dem Gefühl des Realen, der Wirklichkeitsnähe…

Dem Albtraum so nah

Die Handlung spielt an einem Ort der Erholung – ein ruhiges, einladendes Urlaubsziel in der Natur, wo ein entspannter Sommer genossen werden könnte – und an dem es schwerfällt, sich vorzustellen, dass dort etwas Böses lauert. Die Familienmitglieder sind sympathische Charaktere, mit denen sich das Publikum einfach identifizieren kann. Außerdem verzichtet der Film gänzlich auf Special Effects oder unübliche Einsätze von Licht, wodurch der Film greifbar und nicht künstlich wirkt. Auch die düstere Musik wird sehr sparsam eingesetzt und dadurch verbleibt das Geschehen in einer Art „akustischem Realismus“, so als würde das Ganze im wirklichen Leben stattfinden. Hinzu kommt die Wahl der Geschwindigkeit. Quälend langsam zieht sich der Film und zwingt die Familie ebenso wie das Publikum, im sadistischen Terror zu verweilen und sich der immer hoffnungsloser werdenden Lage nicht entziehen zu können.

Das Grauen in Michael Hanekes beiden Werken liegt jedoch insbesondere an dem Verbrechen an der (kindlichen) Unschuld. Nicht nur, dass einer unbescholtenen Familie von unbekannten Männern, die selbst fast noch Jungen sind, grundlos und aus rein teuflischer Freude Abscheuliches zugefügt wird, ist ein Beispiel dessen. Zu den Opfern der eiskalten Täter zählen ein Kind, Schorschi, und ein Tier, der Familienhund, welche beide stark mit dem Begriff der Unschuld verbunden werden. Manifest wird das Kindliche, Unschuldige aber wohl am deutlichsten in der abartigen Perversion der Kinderspiele, den „Funny Games“. Diese Spiele kennen die meisten der Zuschauer*innen noch aus der eigenen Kindheit oder vom eigenen Nachwuchs und sind für viele zu einer schönen Erinnerung geworden. Hier werden die Spiele der Unschuldigen zu einem mörderischen Kampf um das Leben – das eigene sowie das der Liebsten.

Das wahre Erschaudern bei „Funny Games“

Abseits dieser Ambivalenz hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs besitzen beide Filme eine wertvolle Besonderheit, die sie von anderen Filmen ihres Genres stark unterscheidet – sie richten sich direkt an das Publikum. So zwinkert uns einer der Sadisten zu und fragt uns, ob wir bereits genug an Gewalt haben oder nach mehr verlangen. Er zeigt uns sogar eine Alternativversion mit einer Chance für die Familie, die jedoch zurückgespult wird und der restlichen Tragödie weicht. Vielleicht geht es im Grunde nicht darum, den häufigen Wunsch nach realistischer Logik auf der Leinwand zu stillen. Vielmehr sind Michael Hanekes „Funny Games“ als Kritik an dem Maß von Gewalt zu sehen, welches wir Massen- und Unterhaltungsmedien wie dem Film zuführen.

Neben der (Un)glaubwürdigkeit, die die Filme vermitteln, erreicht diese Interaktivität vielleicht die von Michael Haneke gewünschte Selbstreflexion und Erkenntnis bei den Konsument*innen. Zurück bleibt auf jeden Fall eine beklommene Stimmung, das Gesehene muss noch verarbeitet werden. Statt einem genussvollen Zusehen wird über Stunden versucht, auszuhalten, was auf der Leinwand passiert, oder es wird auf die zweite Option zurückgegriffen, das Verlassen des Kinosaals. „Funny Games“ versetzen in einen Zustand des Entsetzens, des Schocks und der Schwermut. Bevor sich also damit beschäftigt wird, sollten schon mal ein paar der stärkeren Nerven zusammengekratzt werden.

Um also noch einmal zurück auf die zu Beginn gestellte Frage zu kommen: Es wäre, genauso wie damals vor 15 bzw. 45 Jahren, sinnvoll, die Sehgewohnheiten der Gesellschaft wieder stärker zu reflektieren und zu entscheiden, was gezeigt werden soll und was eben nicht. Liegt es nicht auch an unseren Vorlieben, an unserer Schaulust, welche Bilder wir schlussendlich zu Gesicht bekommen? Wie soll mit der Darstellung, dem Aufgreifen von Gewalt in Unterhaltungsmedien umgegangen werden? Ob Hanekes Weg hierfür eine konstruktive Lösung ist, muss schließlich jede*r für sich selbst entscheiden.

1 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022. und Diagonale,“Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.
2 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.
3 Vgl. IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022. 

Bibliografie

Erzählungen der Dame, die die Einleitung für die Filme am 10.04.2022 im Schubertkino hielt

Internet

Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.

Diagonale, “Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.

IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022.

Exploitation-Wahn in der Alpen-Idylle

Die Totenschmecker – Filmkritik von Tobit Rohner

Noch unter dem Arbeitstitel Blutrausch wurde nähe Kitzbühel ein österreichischer Film gedreht, der dann 1979 betitelt als Die Totenschmecker den Weg ins Kino fand. Aufgrund des ausbleibenden Erfolgs wurde er allerdings zurückgezogen und erneut veröffentlicht, diesmal beworben als Das Tal der Gesetzlosen. Abermals erfolglos – Doch man bleibt hartnäckig. Der dritte Anlauf Der Irre vom Zombiehof versuchte nun Monsterfans anzulocken, doch scheiterte er ebenfalls. Daran festhaltend, es läge am Titel, verirrte sich der Film, nun Das Mädchen vom Hof genannt, in das ZDF, als handle es sich dabei um ein klassisches Heimatdrama. Wie generisch die Titel gewählt sind, so fällt auch der Inhalt aus. Und nein, weder Unmengen an Kunstblut, Kannibalismus, Westernbanditen oder Untote finden ihren suggerierten Auftritt. Vielmehr erscheint Die Totenschmecker wie ein typisches Produkt seiner Zeit. Man könnte ihn beschreiben als österreichischen Exploitation-Film des 70er Jahre-Slasher-Kinos, der hinter einer unschuldigen Heimatfilm-Fassade lauert. Regie führte Ernst R. von Theumer – selbstverständlich auch unter anderen Namen, nämlich dem Pseudonym Richard Jackson. Man bleibt seinem Werk ja treu. Der genaue Verbleib Theumers ist heute unbekannt.

Die Totenschmecker (R: Richard Jackson, DE 1979)
Filmprogramm der Diagonale

Die Handlung spielt in den Alpen, auf dem Hof eines verwitweten Altbauern und seiner drei Söhne. Der Älteste, der Erbe, lebt als einziger mit Frau und Tochter, der Zweitgeborene arbeitet im Dorf und der Jüngste, mental beeinträchtigt und in der Scheune isoliert, wird wie ein Vieh behandelt. Und eben jener vergreift sich an einer Nomadin (im Film ‚Zigeuner‘ genannt), die den Hof besucht. Die übrigen Mitglieder der Bauernfamilie sind erpicht darauf, den Anschein, ein gutes Leben zu führen, zu wahren. Die logische Schlussfolgerung daraus: Die Leiche vertuschen, anschließend die gesamte nomadische Gruppe auslöschen und jegliche Beweise für deren Existenz vernichten. Das ist der Kern der Geschichte. Und so nebenbei gibt es auch eine jugendliche Liebesbeziehung, ganz nach Romeo und Julia, zwischen der Bauerstochter Anna und dem Nomaden Joschka, der übrigens Violine spielt, als hätte er ziemlich oft und sehr begeistert Spiel mir das Lied vom Tod gesehen. Dann taucht noch die verwitwete Großmutter von Anna auf, welche überall böse Omen vermutet, und zum Schluss vergewaltigt der ‚Irre‘ auch noch Annas Mutter. Im Laufe des Films werden multiple Nebenstränge geöffnet, die durchaus Potential innehalten, allerdings keinen runden Schluss finden, sondern wie abgetrennt verwahrlost werden. ‚Kill Your Darlings‘ im anderen Sinne. Die Darsteller:innen verkörpern ihre Rollen auf trockene Art und Weise, die einen ebenso trockenen Humor entstehen lässt, was zu der ebenfalls trockenen Beiläufigkeit der Morde passt. Dabei sind die Tötungen selbst so seltsam inszeniert, dass man sie entweder nicht mal als Tötung identifiziert oder aber sich über die Sinnhaftigkeit der Darstellung wundert. Es lässt sich also festhalten: Bei Die Totenschmecker handelt es sich um einen regelrechten Trash-Film. Den ambivalenten Unterhaltungswert findet man in der billigen Produktionsweise und der unerklärlichen Inszenierung. Das geschieht mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man diskutieren könnte, ob der Begriff des ‚camp‘ – dem bewussten Widerstand gegen normativer Ästhetik – für diesen Film anwendbar wäre.

Inwiefern bestimmte Haltungen von den Filmschaffenden beabsichtigt sind oder lediglich die Verfremdung des Vertrauten angepeilt wird, sei dahingestellt, aber Die Totenschmecker weist durchaus kritische Tendenzen auf. Verortet man den Film im Slasher-Genre, erkennt man einige Parallelen zum US-amerikanischen The Texas Chain Saw Massacre von 1974. So findet sich nicht nur ein Slasher-Killer vor, sondern gleich eine ganze Familie von Leuten, die bereit sind, das Mordbeil zu schwingen. Im Gegensatz zur texanischen Familie herrscht hier kein Sadismus. Stattdessen eine nüchterne Notwendigkeit die Illusion eines Selbstbildes nach außen zu bewahren. Zumal bietet der Film genügend Interpretationsspielraum, um darüber zu streiten, ob der jüngste Bauerssohn, der einem Monster-Killer am nächsten kommt, böse geboren (wie etwa die Horror-Ikone Michael Myers) oder vielmehr durch die diskriminierende Außenwelt der Familie sozialisiert wurde. Durch die mordende Familie, verkörpert von archetypischen Bauernfiguren, wird zumal eine Dekonstruktion des verschönernden Heimatfilms angezielt. Natürlich werden farbenfrohe Landschaftseinstellungen von den Alpen – typische Merkmale des Heimatfilms – gezeigt, denen aber durch die Gräueltaten eine Bedrohlichkeit hinzugefügt wird. Die Frage nach der Bedeutung von Heimat wird neu gestellt. Der Heimatsbegriffs erhält dadurch eine nicht zu vergessene Bedeutung der Gefahr. Gerade in xenophobischen Kulturkreisen ist die Frage zu stellen: Was bedeutet Heimat für die Fremden, die Außenstehenden und Heimatlosen? Für jene, die auf Heimat verzichten oder dazu gezwungen sind, die Heimat zu verlassen? Betrachtet man die Struktur, wie die mordbereite Bauernfamilie aufgebaut ist, so fallen starke Machthierarchien auf. Dem ältesten Sohn wird aufgrund seiner Erstgeburt das Erbe des Hofes rechtmäßig zugestanden, doch hält der Vater trotz seines hohen Alters an seiner Machtposition fest und möchte seinen Status, die Leitung des Bauernhofes, nicht abtreten. Von den Söhnen wird der Vater als autoritäre Instanz nicht kritisiert, dadurch machen sich natürlich absolute Machthierarchien bemerkbar, die an patriarchale, monarchische Strukturen erinnern. Die Bauern in Die Totenschmecker versuchen die Ermordung der Nomad:innen zu vertuschen, denn immerhin würde die Offenlegung auch die ideologisch-begründete Illusion der Natürlichkeit ihres patriarchalen Machtsystems bedrohen. Aber das ‚Eindringen‘ von außen braucht es nicht mal. Der Vater muss ins Krankenhaus eingeliefert werden, die Macht verbleibt beim Ältesten. Anfangs scheint die Hierarchie klar, doch endet der Konflikt zwischen den ältesten Söhnen darin, dass sie sich nach getaner Arbeit gegenseitig massakrieren. Die Struktur ungleicher Machtverhältnisse bricht ohne Autorität zwangsweise in sich zusammen.

Die Totenschmecker beherbergt Qualitäten in sich, die sich von Konventionen abwenden – im formal ästhetischen und inhaltlichen Sinne. Dadurch hat der Film natürlich Schwierigkeiten seine Zielgruppe zu finden, was sich unschwer in der Vielzahl an Titel erkennen lässt. Kein Wunder, dass er in der Filmgeschichte untergegangen ist. Für alle Interessierte: Abseits von Filmfestivals hat der Filmverleih Mr. Banker Films & Cargo Records die Alpen-Perle wieder ausgegraben und ungekürzt auf DVD ans Tageslicht gebracht.

Barbarischer Beziehungssimulator

Filmkritik zu There was no one here before (R: Antonio Mérida, AT 2022)

.

Im Kurzdokumentarfilmprogramm 1 der Diagonale 22 in Graz erschaffen Antonio Mérida und Carmen Kirschner ein gedankliches Trümmerfeld.


Mérida ist zwar als Regisseur von There was no one here before gelistet, doch wird schnell klar, dass eigentlich das Zusammenspiel der beiden das zentrale dokumentarische Thema ist. Der überspannende Bogen ist eine romantische Paarbeziehung, die in ihrer Entstehung, Führung und einem offenen Ende angedeutet wird. Soweit zum fiktiven Teil. Allerdings wird in der 22-minütigen Laufzeit keine eigenständige Geschichte „der beiden“ im Sinne fixer Figuren-Korsette erzählt. Vielmehr funktionieren die Körper von Mérida und Kirschner als Platzhalter für deren verschiedenen Rollen, zwischen denen im Stil eines alten Carousel-Projektors ständig vor- und zurückgeschalten wird. Einerseits lernen sich die realen Privatpersonen Kirschner und Mérida kennen, dokumentieren auf einer zweiten Ebene ihren gemeinsamen filmischen Arbeitsprozess als Schauspielerin & Regisseur und erzählen auf einer dritten Ebene schließlich die diegetische Geschichte der Beziehung. All das ist im Film zu sehen, aber nicht immer leicht auseinander zu halten. Dröselt man es mathematisch auf, ergeben sich pro Körper je 3 Rollen und damit wiederum 9 mögliche Beziehungen, in denen sich deren Hüllen begegnen und gegenseitig bedingen. So beginnen die beiden Privatpersonen ihre Freundschaft bei einem gemeinsamen Abend in einer Bar, besprechen später ihr professionelles Projekt anhand des Drehbuchs auf einem Balkon und unterhalten sich innerhalb der diegetischen Beziehung über ihre Erwartungshaltung an eine Paarbeziehung.

Das In-Verbindung-Setzen dieser Rollen und die dadurch entstehenden Konflikte sind das Zentrum des Films. Wie bei einem Zahlenschloss eines Tresors rotiert man als Publikum um den Kern dieser vielschichtigen Beziehung und hofft, dass sich währenddessen im Hintergrund die Kolben entwirren und den Innenraum schließlich freigeben. Man hofft auf die dokumentarische Erkenntnis hinter der Tür. Letztendlich bleibt diese Tür aber verschlossen, denn keine Ebene wird narrativ zu einem Abschluss gebracht. Stattdessen ringen die Rollen auf ihren jeweiligen Ebenen um ihren eignen Willen und ein gleichzeitiges Fortbestehen der gemeinsamen produktiven Existenz. Die individuellen Charaktere um die Paarbeziehung, Schauspielerin und Regisseur mit ihren künstlerischen Visionen um das gemeinsame Projekt und Mérida und Kirschner um ihre soziale Beziehung. „Es gibt nicht die eine Lösung. Findet Kompromisse!“ scheint der Nexus zu sein, der aus allen Ebenen durch die Leinwand zum Publikum spricht. Anstelle einer Milestone-ähnlichen Figurenentwicklung wird man mit den Bruchpunkten der Rollen konfrontiert, die versuchen ein funktionierende Version ihrer Beziehung zu konstruieren. In einer Loop-artigen Sequenz kommt Kirschner dreimal hintereinander aus dem Badezimmer, nur mit einem Handtuch umwickelt und fragt lasziv in die Kamera „Can you dry me?“, als würde sie die Verführung ihres Partners einstudieren und feinjustieren. Mérida wiederum hadert in immer wieder eingeblendeten Texttafeln mit der dokumentarischen Authentizität seines Projekts. Er merkt wie Kirschner als Schauspielerin und Privatperson unter seinem Skript auseinanderfallen müssen. Gibt er sein Skript auf oder opfert er emotionale Tiefe und damit Realismus?

There was no one here before zeigt die Schwierigkeiten dieser Dialoge. Wenngleich sich der Film in seinen einzelnen Erzählsträngen gnadenlos verliert, macht er die Grundkonflikte doch umso mehr, und vielleicht gerade deshalb so unerbittlich spürbar. Das Trümmerfeld, mit dem man zurückgelassen wird, zeigt nicht die Überreste einst glorreicher Gebilde, die im Verlauf des Films zerfallen sind, sondern stellt als Totgeburt eine Benjaminsche Erfahrungsarmut aus, die die Hilflosigkeit der Realität schlussendlich erfahrbarer macht als jede narrative Dokumentation.

Als Frau im Handwerk

„Rauchfangkehrerin? Why not?“ (Sophie Szönyi)

Von Julia Bauereiß

Die junge Filmemacherin Emma Braun (geb. 1999) präsentierte im Zuge des Diagonale Filmfestivals 2022 zum ersten Mal ihren selbst produzierten Kurzdokumentarfilm „Einblick“. In zwanzig Minuten portraitiert der 16mm Analogfilm die junge Sophie Szönyi in ihrem Beruf als Rauchfangkehrerin. Dabei werden die Zuschauenden mit an ungewöhnliche Orte getragen und können so die Stadt Wien aus einer völlig neuen Perspektive erleben. Ein ruhiges Schwarz-Weiß-Bild und das sanfte Voiceover von Sophies Stimme lassen das Berufsportrait zu einer ästhetisch-eindrucksvollen Reise werden, die zunächst harmonisch und idyllisch wirkt, doch nach einem ungeahnten Perspektivwechsel an Tiefgang gewinnt.

Dokumentarfilm kurz, AT 2022, analog – 16mm, 20 min, OmeU
Sammelprogramm: Kurzdokumentarfilm Programm

Das Portrait beginnt bei Nacht, wenn die Stadt noch schläft. Sophie muss als Rauchfangkehrerin schon zu einer ungewöhnlich frühen Uhrzeit aufstehen. Gerade wenn die Sonne aufgeht und die Natur erwacht, steht sie schon völlig allein bei der Station Schottentor, die untertags normalerweise von tausenden Menschen passiert wird. Mit der Bim macht sie sich auf den Weg zur Arbeitsstelle, wo sie ihre Dienstkleidung anlegt, um im nächsten Moment über den Dächern von Wien der Stadt beim Aufwachen zuzusehen. Mit intimen schwarz-weißen Panorama- und Detailaufnahmen begleitet der Film so die Arbeit der jungen Rauchfangkehrerin Sophie. Es sind einfache Aufnahmen, wie Sophie eine Leiter erklimmt, eine Luke öffnet oder ihr Werkzeug einsetzt. Doch gerade in Verbindung mit der weitreichenden Kulisse wirken diese besonders eindrucksvoll. Durch die gekonnte Platzierung der Kamera, hervorragend gewählte Einstellungsgrößen und Sophies routinierte, fast meditative Arbeitsweise werden Harmonie und Ruhe erzeugt, sodass der Film beinahe romantisch wirken könnte. Damit die Prozesse nicht zu verträumt erscheinen, entschied sich die Macherin Braun gezielt für einen Schwarz-Weiß-Film. Dieser verleiht den Aufnahmen eine gewisse Zeitlosigkeit und wirkt auch passend für den Beruf der Kaminkehrerin. 

Wieso eigentlich ein Portrait über eine Rauchfangkehrerin und wie kam die junge Protagonistin zu dieser Arbeit? Gerade handwerkliche Tätigkeiten werden überwiegend von Männern dominiert, so auch die des*der Rauchfangkehrer*in[1], welche zusätzlich noch sehr selten ausgeübt wird. Diese Frage kam auch im Anschlussdiskurs bei der Diagonale mit der Filmemacherin und der Protagonistin auf. Braun lernte Szönyi zufällig kennen und empfand dieses alte Handwerk auch als sehr ungewöhnlich. Szönyi selbst wollte nach der Matura weg von der schulischen Theorie und hin zur Praxis, so hörte sie sich um und fand eben jenen Beruf. Nach reiflicher Überlegung, dachte sie sich schließlich „Rauchfangkehrerin? Why Not?“, wie sie selbst in der Anschlussdiskussion des Films erklärte. Welche Herausforderungen, Erfahrungen und Eindrücke sie gerade als Frau in diesem Beruf erleben würde, wusste sie wohl zuerst auch nicht. Eben diese erzählt sie jetzt sehr nachfühlbar und authentisch im Voiceover von Brauns Film.

Neben der faszinierenden Bildästhetik wird die Handlung des Films erst mit Sophies Erzählungen deutlich. Sie beschreibt mit ihrer ruhigen und sanften Stimme nicht nur ihre Arbeit, sondern offenbart auch viele Eindrücke und Gedanken, die sie oft dabei beschäftigen. Dies eröffnet schließlich die neue Perspektive des Films. Sophie schildert auf ehrliche und authentische Weise ihre häufig negativen Gefühle und Erlebnisse, die ihr als Frau in diesem Beruf untergekommen sind. So verhalten sich manche Personen beim Erscheinen einer unüblicherweise jungen Rauchfangkehrerin aufdringlich oder anzüglich. Auch zu viel Körperkontakt in den Wohnungen der fremden Personen, lösen bei Sophie Unbehagen aus. Auf Grund des Mythos, Rauchfangkehrer*innen seinen Glücksbringer, wollen Menschen häufig die Knöpfe von Sophies Jacke berühren, damit das Glück auf sie überspringt. Allerdings möchte sie das nicht, doch weiß sie häufig nicht wie sie reagieren soll. Oft stellt Sophie auch fest, dass gerade Männer ihr häufig Hilfe beim Tragen schwerer Dinge oder bei der Ausführung ihrer Arbeit anbieten. Diese möglicherweise freundlich gemeinte Akt, lässt Sophie jedoch ihre Kompetenzen hinterfragen. So fühlt sie sich schnell nicht ernst genommen, nicht vertrauenswürdig oder gar überflüssig. Durch die wiederkehrenden Hilfsangebote der ungelernten Personen, wird Sophie als kompetente und gelernte Fachkraft dieses Handwerks automatisch herabgewürdigt. Gerade seit Sophie allein arbeitet, bemerkt sie häufiger dieses Gefühl von Unbehagen. Sie bricht hier eindeutig die Norm des stereotypischen männlichen Handwerkers. Der Film zeigt sehr gut, dass Weiblichkeit wohl nach wie vor mit Schwäche assoziiert wird. Dies wird deutlich, da sich einige Personen gegenüber Sophie merklich anders verhalten, als sie es gegenüber einem männlichen Kollegen tun würden, wie die Zuschauenden aus ihren ergreifenden Erzählungen erfahren. 

Wer hier nur ein stumpfes Berufsportrait mit ästhetischen Bildern erwartet hat, wird in diesem 20-minütigen Kurzdokumentarfilm allemal überrascht. Erstaunlich tief, emotional und authentisch schafft es der Film die Problematik „Frauen in Männerberufen/ Frauen im Handwerk“ zu beleuchten und die Zuschauenden zu berühren. 


[1] Im Zuge dessen, eine kleine Nebensächlichkeit: Word scheint ebenfalls nur die männliche Schreibweise dieser Berufsbezeichnung zu kennen